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Fliegen lernen

Beim Fliegen gibt es drei Phasen: Abflug – Flug – Landung. Der Abflug und die Landung liegen ausserhalb unserer Kontrolle. Wir haben somit auf diese Phasen keinen Einfluss und müssen einfach nur stillsitzen. Dabei hängt unser Leben von einem Piloten ab, den wir (meist) nicht kennen.

Hat der Flieger nach dem Abflug die angestrebte Flughöhe erreicht, dann können wir während dem Flug weitgehend das tun, was wir wollen. Das eigene Verhalten liegt somit in unserem Bereich. Manche schlafen, manche lesen, manche arbeiten, manche betrinken sich, manche lassen sich unterhalten und manche haben während dem ganzen Flug einfach nur Angst. Die Turbulenzen, die während dem Flug auftreten, befeuern die Angst der Ängstlichen zusätzlich. Die ganze Flugreise ist dann ein reiner Horrortrip.

Die drei Phasen des Fliegens gelten auch für unser Leben. Während unserer Geburt waren wir völlig hilflos und wir überlebten nur dank anderen Menschen. Zudem wurden wir in Zusammenhänge hineingeboren. Folgendes haben wir nicht gewählt: Die Eltern, die Gene, die Verwandtschaft, die Nationalität, die Nachbarschaft, die Sprache, die Religion; es gibt so vieles im Leben, welches uns beim Start ins Leben einfach so mitgegeben wurde. Grosse Teile der Kindheit verliefen deshalb ausserhalb unserer Kontrolle. Nach ca. 20 Jahren – so lange verläuft der Abflug ins Leben – haben wir dann eine gewisse Flughöhe erreicht.

Jetzt beginnt das Leben, in welchem wir vieles unter Kontrolle haben oder bringen können (siehe Skizze). Da während der Kindheit so viele Dinge in so vielen Kategorien des Lebens passieren, ist es durchaus normal, dass wir uns dabei Kratzer und Risse holen. Deswegen fängt niemand im Erwachsenenalter bei null an. Gewisse Voraussetzungen binden uns ein Leben lang. Geschwister kann man nicht abwählen, noch kann man sich von den eigenen Eltern scheiden lassen. Wer es mental trotzdem tut, der will damit eine vergiftete Vergangenheit hinter sich lassen.

Die Kultur in welcher wir leben, sie prägt uns. Das gilt ganz besonders für die Eindrücke in der Kindheit. Es ist somit sehr interessant und wichtig sich zu fragen: Welche Erfahrungen haben mich dazu gebracht, so und nicht anders zu denken? Wieso habe ich politisch diese oder jene Meinung? Wie kam ich zu meinen Vorstellungen und Überzeugungen in Sachen Fitness, Arbeitsethik, Treue, Sexualität usw. Wer sich solchen Fragen verweigert, der bleibt ein Zufallsprodukt seiner Umwelt. Vieles ist uns kulturell überstülpt worden. Das Perfide daran; wir merken es kaum. Sind Sie religiös? Falls ja, dann liegt die Chance bei 80%, dass es sich um dieselbe Religion handelt, die Ihre Eltern praktizieren. Mein Abflug ins Leben verlief streng religiös. Bereits als Kind bemerkte ich aber, dass Glauben nicht Wissen ist und dass man mit Angst, Scham und Schuld Menschen manipulieren kann. Der Wert einer Religion – so finde ich – kann man sehr gut daran erkennen, wie sie den Abtrünnigen begegnet. Ist es Drohung oder gar Verfolgung, dann respektiert diese Religion den Menschen nicht und es handelt sich bloss um ein Hierarchiesystem, das Menschen unterjocht.

Betrachten Sie den Zweifel als ein hohes Gut. Zweifeln hat nichts mit Verzweiflung zu tun. Im Gegenteil! Es geht darum, sich seine eigene Freiheit zu erkämpfen. Eine geschenkte Freiheit ist nichts wert. Es macht mitunter Sinn, sich von den Wurzeln der Kindheit zu verbeugen, um dann eigene Wege zu gehen. Denn Folgendes wird von vielen übersehen: Erst etwas nicht (mehr) zu tun, erschafft Identität. Das gilt für das Private wie für das Geschäftliche. Sich abzugrenzen und Nein zu sagen, kreiert unsere Individualität. Dafür ist aber immer ein Preis fällig. Ausserdem; Turbulenzen gehören beim Fliegen wie beim Leben dazu. Und sie können heftig ausfallen. Nehmen wir die Corona-Pandemie: Niemand hat sich diese gewünscht. Sie war nicht unsere Wahl. Doch sie gehört nun mal auf unserem Flug durchs Leben dazu. Wie reagieren wir auf diese? Mit Angst, mit Verzweiflung, mit Wut, mit Panik oder mit Kreativität? Was vielen entgeht. Wir haben die Freiheit auf das zu reagieren, was uns geschieht. Und diese Freiheit ist IMMER ein Wählen. Wir alle wählen, denn auch eine unbewusste Wahl ist eine Wahl. Wie viel besser ist es, wenn ich mir der Wahl bewusst bin.

Dass es auf den Spielfeldern Job, Ehe, Sport oder Fitness immer rund läuft ist eine kindliche Vorstellung. Die Kratzer und Risse, die wir alle in unterschiedlichen Situationen erfahren haben und noch erleben werden, machen uns letztlich aus. Ja, es sind die Motoren für das eigene Leben. Weiss nicht jeder gute Segler, wie er den Gegenwind nutzen kann? Das facettenreiche Leben beginnt dort, wo die Komfortzone endet, auch im Training. Wer Muskeln aufbauen will, der muss den Weg des Widerstands und der Hindernisse gehen. Gratis ist da nichts.

Ich bitte nun um erhöhte Aufmerksamkeit: Es ist möglich, NICHT trotz der schwierigen Umstände erfolgreich zu sein, sondern genau deswegen. Sie haben richtig gelesen. Genau deswegen! Fragen Sie sich: Welche positiven Erkenntnisse hat z. B. die Pandemie-Krise für Ihr Geschäftsmodell gebracht? Wenn Sie jetzt sagen: «Gar keine, ich bin einfach nur enttäuscht!» Gut so, dann hört wenigstens die Täuschung auf, werde ich antworten. Eine  ENT-Täuschung. Wenn das kein Gewinn ist!

Diesen Perspektivenwechsel können Sie auch auf das Private lenken. Ein grosser Zwist in der Familie? Hurra, ein Problem! Eine schwierige Kindheit? Wow – es gibt viel zu tun! Man kann Hindernisse als Chance begreifen. Nein, es geht hier nicht um blinden Optimismus. Sowas wäre eine wuchtige Lebenslüge. Der Mensch kann aber Perspektive wechseln. Es ist möglich den Widerstand zu nutzen – so wie es das Flugzeug macht – wenn die Triebwerke laufen. Wir können Angst in Klugheit umwandeln, Schmerz in Veränderung und vage Wünsche zu klaren Zielen formen. Es ist einfach nur klug sich zu erinnern, dass wir im Leben Dinge hinnehmen müssen, die uns nicht gefallen (werden). Es ist möglich, das Leben als Abfolge von Hürden zu verstehen. Und bei jeder Hürde lernen wir etwas dazu. Ist das nicht wunderbar?

So wie der Pilot während dem Flug den Flieger immer wieder korrigieren muss, so leben auch wir immer unbalanciert und müssen unseren Flug durchs Leben immer wieder neu justieren. Das ist das Einzige, was wir tun können. Und dieses Korrigieren ist es, welches unser Leben gelingen lässt. Wie und wann wir im Leben wieder landen werden, ist dann meist «out of control». Doch es ist gut zu wissen, wenn wir während unserer Reise merken, dass der Flug wertvoll ist. Denn davon bin ich zutiefst überzeugt: Es ist ein Privileg zu sterben. Die meisten potentiellen Menschen werden nie geboren. Mit anderen Worten: Die meisten Flugzeuge können nie starten!

Eric-Pi Zürcher

War früher über Jahre als Personal Trainer tätig und arbeitet nun beim FC Thun als Konditionstrainer.

E-mail: eric-pi@bluewin.ch