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Zoom out

In dieser Kolumne geht es um mentales Gewichtheben. Wahre Fitness trainiert beides. Physische als auch psychologische Muskeln. Viel Spass beim neuronalen Schwitzen.

Das eigene Denken zu trainieren ist ein wertvolles Werkzeug für unser Leben. Und es ist gar nicht so einfach. Denn unser Gehirn ist primär nicht an der Wahrheit interessiert. Es will bloss recht haben und es giert nach simplen Ursache-Wirkung-Mechanismen. Solche Denkmuster erzeugen Sicherheit und es bedeutet pure Komfortzone für den Hirnbesitzer. Der Umgang mit Widersprüchlichkeit, mit Unsicherheiten, mit Mehrdeutigkeiten, mit Nichtwissen – also mit der Komplexität – das alles ist anspruchsvolles Kopftraining und man wird darin nur besser, wenn man es trainiert. Und es ist wichtig! Die Globalisierung hat mit der ständig sich entwickelnden Technologie, dem Internet und der enormen Mobilität der Menschen der Komplexität einen gewaltigen Schub verpasst. Komplexität bedeutet, dass die Elemente miteinander verbunden sind und sich wechselseitig beeinflussen. Das Corona-Virus hat uns eindrücklich gezeigt, wie vernetzt doch die Menschen auf der ganzen Welt miteinander sind. Binnen weniger Wochen waren alle Länder bis in die letzten Täler mit dem Corona-Virus kontaminiert.

Beachten Sie bitte die Skizze Perspektivenwechsel. Ein Passagier sitzt im Zug und dieser fährt nach Westen (A). So weit, so klar. Der Passagier steht nun im rollenden Zug auf und läuft vom ersten zum letzten Wagen. Subjektiv läuft er nun rückwärts nach Osten (B). Da aber der Zug schneller fährt als der Passagier, läuft er aber immer noch gen Westen (C). Ist der Bezugsrahmen nun aber die Erdrotation, dann bewegt sich der Zug wieder nach Osten (D), da sich die Erde schneller nach Osten dreht, als der Zug nach Westen fährt.

Wenn wir nun noch weiter heRAUSzoomen, dann stimmt auch das wieder nicht. Denn die Erde dreht sich um die Sonne und so gesehen, bewegt sich der Zug im Kreis (E).

Man erkennt; mit unterschiedlichen Perspektiven gelangt man zu völlig anderen Erkenntnissen bzw. Wahrheiten. Jede isolierte Sichtweise ist für sich korrekt (und trotzdem falsch). Man kann sich mit einem Tunnelblick z. B. auf Sichtweise C fixieren und mit Inbrunst sagen: Der Zug fährt gegen Westen. Basta!

In einer hochkomplexen Welt ist die multiperspektivische Fähigkeit für einen Überblick enorm wichtig. Ob im Job, in der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen oder in der Politik; für alle komplexen Probleme gibt es immer einfache Lösungen. Und sie sind immer falsch. Warum sind sie trotzdem so beliebt? Erinnern wir uns. Das Gehirn mag es einfach. Genauso wie das eigene Fit-Sein ist das Leben nicht Einfalt, sondern Vielfalt; nicht statisch, sondern dynamisch; nicht eindeutig, sondern mehrdeutig.

Gerade in der Corona-Zeit kann man diese Konfusion in den Gehirnen gut beobachten. Die einen rufen «impfen statt schimpfen!» Andere bemerken: Eine neue Impfmethode ohne Langzeitstudien: Unverantwortlich! Wieder andere betonen: Niemand regiert über meine eigenen Körpersäfte! Jedes Lager hat dabei beachtenswerte Argumente und weil unser Gehirn es einfach mag, prüfen so wenige Menschen ernsthaft die Sichtweisen der anderen. Der Mensch bildet sich gerne eine Meinung und danach fischt er sich die passenden Argumente. Alles Gegensätzliche wird ausgeblendet. Das ist das Prinzip der selektiven Aufmerksamkeit. Kultur, Wissen und unsere Interessen bauen in uns (un)bewusste Filter ein. Beachten Sie bitte die Skizze Wald: Ein Holzfäller, eine Botanikerin, ein Kind und eine Joggerin gehen in den Wald. Alle Waldbesucher werden dabei andere Erfahrungen machen, da Interesse und Wissen unterschiedlich sind. Es wirken andere Filter, doch es ist der gleiche Wald! Wir sehen meist nicht, dass wir nicht sehen. Wir sind blind gegenüber unserer eigenen Blindheit. Diese Erkenntnis sollte unsere MEINungen und unsere Kritik an anderen Menschen zähmen.

Das Wald-Beispiel zeigt auf: Jedes Wissen und jede Erfahrung engen auch ein. Wir erzeugen eine eigene Realität in der Welt, da wir alle individuelle Filter haben. Bewusste, unbewusste, nützliche und auch unpassende. Ob ein Glas halb voll oder halb leer ist, hängt ja auch davon ab, welche Flüssigkeit darin steckt und ob wir durstig sind oder nicht. Wie unterschiedlich die Filter beim Mensch arbeiten, erkennt man gut, wenn wir auf Amazon eine Buchrezension lesen. Da kann ein Buch hochgelobt werden, während ein anderer Leser es massiv in den Keller herunterpunktet. Da fragt man sich; Haben die dasselbe Buch gelesen? Wir benutzen unsere Filter situativ auch gerne anders. Sind wir erfolgreich, dann sonnen wir uns gerne in der Verantwortung. Beim Misserfolg schiebt man die Verantwortung gerne den unglücklichen Umständen oder den anderen (alles Idioten) in die Schuhe. Anderes Beispiel: Eifersucht finden wir für uns gerechtfertigt. Beim anderen halten wir es oft für übertrieben.

Um dem Tunnelblick zu entkommen, ist es hilfreich, dass wir uns an das Offensichtliche im Leben erinnern. Das Leben ist nicht (immer) fair! Fehler passieren und Dinge werden schiefgehen. Stress und Konflikte gehören zum Leben und ganz wichtig: die Dinge ändern sich. Der Wandel ist die einzige Konstante im Leben! Er gehört zur Matrix des Lebens. Unabhängig davon, ob uns das passt oder nicht. Und der Wandel zerstört das Bestehende. Das alles ist nicht besonders schwer zu verstehen, aber oft schwer zu akzeptieren. Der Mensch liebt die Komfortzone und da jede Veränderung immer auch Verunsicherung mit sich bringt, wählt der Mensch gerne drei ungünstige Bewältigungsstrategien: Ignorieren, weglaufen oder bekämpfen. Anti-Aging ist zum Beispiel eine hoffnungslose Bekämpfung einer Naturgewalt. Nicht wenige in der Fitnessbranche sind von dieser Idee vergiftet. Älter werden ist aber die einzige Möglichkeit, um länger zu leben. Das Leben wird uns einmal rückstandslos entsorgen. Dagegen anzukämpfen ist eine «Mission Impossible». Stattdessen sollten wir lieber den Bereich bearbeiten, den wir unter Kontrolle haben: Unser Denken.

Doch jeder Mensch «hängt» in seiner Geschichte. Wir sind das, was wir in der Vergangenheit (un)bewusst erlebt und gelernt haben. Unsere Glaubenssätze bestimmen unser Leben. Das ist nicht per se schlecht aber auch nicht per se gut. Zum Beispiel ist der Glaubenssatz, «Ich muss perfekt sein!», eine schreckliche gedankliche Peitsche. Der Anspruch an die eigene Perfektion halte ich für den grössten Feind für das eigene Glücklich-Sein. Ja es ist mentales Gift, da er Unmenschliches verlangt. Die Wahrheit ist, dass alle Menschen immer wieder Fehler begehen und sich ab und an albern benehmen. Zu akzeptieren, dass wir Menschen mit Fehlern und Schwächen «gesegnet» sind, kann eine grosse Erleichterung bedeuten. Nicht mehr Sklave von hochtrabenden Erwartungen zu sein, tut dem inneren Frieden gut. Das Loslassen von Glaubenssätzen ist eine grosse Kunst. Man kann es gar nicht genug betonen. Fehler zu machen und Irrtümern zu erliegen ist normal. Und dieses Recht haben alle Menschen. Politiker, Manager, Fitnesstrainer, der eigene Partner, die Kinder und – ich bitte um erhöhte Aufmerksamkeit – auch Sie!

Damit wir aus einer Situation gedanklich herauszoomen können, braucht es einen Reichtum an Gedanken. Dabei hilft ein Wissen, dass sich aus mehreren Quellen speist. Wer nur aus einer «Monoquelle» trinkt, der verfällt schnell einer Ideologie. Und Ideologie ist wie Mundgeruch. Das haben nur andere. Auch das Eingestehen, dass wir alle über ein profundes Nichtwissen verfügen, sollte uns demütig machen. Stellen Sie sich vor, was die Menschen vor 100 Jahren in den Bereichen Medizin, Technologie, Psychologie, Trainingslehre oder Ernährung noch alles nicht wussten. Die Unterschiede zu heute sind gigantisch. Doch zoomen wir weiter. Die Menschen in 100 Jahren werden genau dasselbe über uns denken. Der Mensch als auch die Menschheit; sie irren sich voran.

Es sind nicht die Reflexe, sondern die Reflexionen, die uns von den Tieren unterscheiden. Kein Tier macht sich Gedanken übers Krafttraining oder über den Sinn des Lebens. Gewöhnlich glaubt man ganz automatisch, an das was man denkt. Den eigenen Gedanken nicht zwanghaft zu glauben, ist eine grossartige Fähigkeit. Mehr noch: Es ist die Lizenz, um auf der Bühne des Erwachsenenlebens, zu bestehen. Nur wer (sich) hinterfragt, der kann ein eigenes Profil entwickeln. Es gehört Mut dazu, an sogenannten fixen Wahrheiten zu zweifeln. Der Zweifel ist kein Hochverrat, sondern er ist die Wurzel des Denkens.

Wie sehen Sie sich? Wie sehen Sie die anderen? Wie sehen Sie die Welt? Sich diese Fragen zu stellen hat grosse Bedeutung, denn die Antworten konstruieren Ihre Filter. Wer sich als intelligent erlebt und findet, dass die Welt generell ein freundlicher Ort ist, der Chancen bietet, der wird viele gute Möglichkeiten erleben, sie geniessen und sich dabei gut fühlen. Jetzt drehen wir die Situation um. Nehmen wir an, Sie fühlen sich minderwertig, defizitär und glauben, dass die Welt voller Betrüger und Gegner ist. Die Welt – wie oben der Wald – sie wird eine andere sein. Mit Ihrer Wahl folgen dementsprechend Konsequenzen. Wenn Sie als Fitnesstrainer oder Clubinhaber also nach Herausforderungen suchen – dann garantiere ich Ihnen – Sie werden sie finden. Doch folgendes ist auch wahr: Wer primär nach Problemen Ausschau hält, der wird sie kriegen.

Die eigenen Gedanken zu hinterfragen, mag mühsam sein, doch es lohnt sich. Beobachten und fragen Sie sich: Macht mich der aktuelle Gedanke klein oder gross? Wie ist mein Selbstbild, wenn ich diesen Gedanken glaube? Bin ich Opfer? Was sehe ich nicht, wenn ich diesen Gedanken glaube? Was könnte Schlimmes passieren, wenn ich diesen Gedanken nicht mehr folge? Es macht Sinn, wenn wir Gedanken wie Kleidungsstücke ausprobieren. Denn nur dann können wir wählen. Ansonsten werden wir gedacht. Doch nur wer wählen kann, der kann auch ab-wählen. Und das ist Macht. Blinder Gehorsam oder Tunnelblick macht ohnmächtig. Zoom out bedeutet Perspektivenwechsel. Um gedanklich flexibler zu sein, helfen auch Umkehrungen von spontanen Gedanken oder Glaubenssätzen.

Statt: «Mist – mein Körper ist nicht perfekt!» zu; «Hurra, mein Körper ist nicht perfekt!» Von; «Ich kann nicht mehr!» zu; «Endlich; ich kann nicht mehr.» Von; «Meine Beziehung ist am Ende!» zu; «Das Ende meiner Beziehung ist der Beginn von etwas Neuem.» Von; «Oje, ich habe den Job verloren.» Zu; Top, ich habe den Job verloren.»

Keinesfalls geht es darum, jede Situation rosarot einzufärben. Es geht mir um die gedankliche Freiheit. Jeder entscheidet selbst, welche Bedeutung er einer Person oder einer Situation geben will oder nicht. Etwas zugespitzt: Wir entscheiden, worüber wir leiden wollen. Wer schon einmal eine Stelle gekündigt hat, der hat womöglich folgende Erfahrung gemacht. Der nervige Chef und die Geschäftsprobleme werden plötzlich irrelevant. Man merkt, dass man dem Chef und der Arbeit viel zu viel Gewicht gegeben hat. Mit dieser Erkenntnis wandert oft ein Lächeln ins Gesicht. Nochmals, weil es so wichtig ist: Nichts hat wirklich eine Bedeutung ausser der, die wir ihr geben.

Die grösste Quelle für Stress ist also unser Denken. Gleichzeitig ist unser Denken auch die grösste Quelle für die Lösung. Ist das nicht eine gute Nachricht?

Wer die Pubertät hinter sich hat, der sollte wissen, dass das Leben uns ständig Dinge liefert, die wir nicht bestellt haben. Doch das Leben ist mehr das, was wir daraus machen, als das, was uns passiert. Schlechte Nachrichten im Job oder im Privatbereich, die uns auf den ersten Blick «schwächen», können uns letztendlich stärken. Weiss nicht jeder, der Krafttraining betreibt, dass er seine Muskeln zuerst schwächen muss, damit er später stärkere erhält?

Eric-Pi Zürcher

War früher über Jahre als Personal Trainer tätig und arbeitet nun beim FC Thun als Konditionstrainer.

E-mail: eric-pi@bluewin.ch