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Mit dem POHS-Circle psychische Belastungen der Mitarbeiter reduzieren

Dr. Kai Pauling

Es gibt heute keine Branche und kein Betrieb mehr, welche nicht mit dem demografischen Wandel oder Fachkräftemangel konfrontiert sind. Neben den Folgen der Globalisierung, Digitalisierung, der zunehmenden Rolle der ökologischen Nachhaltigkeit und des Werte-, Kultur- und Kommunikationswandels innerhalb der Gesellschaft, gibt es noch ein ganze Reihe von weiteren Themen, die nicht nur ganze (Volks-)Wirtschaften, bis hinunter zu den kleinen inhabergeführten Kleinunternehmen auf der einen Seite, sondern den einzelnen Menschen auf der anderen Seite, d. h. neben Kunden vor allem die Mitarbeiter (MA), vor völlig neue Herausforderungen stellen.

Unzählige Studien, Statistiken und Berichte weisen auf die ansteigenden Stressfaktoren hin, denen die Menschen heute im Privatleben ausgesetzt sind und Experten warnen immer lauter vor den daraus resultierenden negativen Folgen auf die Erwerbstätigkeit. So veröffentlichte die Barmer Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport 2019 jüngst Zahlen zu einer fast um zwei drittel gestiegenen Häufigkeit von ärztlich diagnostizierten Schlafstörungen (#1). Was eigentlich als dringende Handlungsaufforderung an Gesundheitsexperten und vor allem die im Land Verantwortung tragende Politik und Verwaltung gedacht ist, sollte aufgrund der nicht zu erwartenden kurz- oder mittelfristigen konkreten Lösungshilfen seitens dieser genannten Gruppen vor allem Ökonomen, sowie sämtliche Stake- oder Shareholder alarmieren, die existenziell auf erwerbstätige Menschen angewiesen sind. Denn laut der genannten Barmer-Statistik sind Angestellte mit Schlafstörungen mit durchschnittlich 56 jährlichen Krankheitstagen fast drei Mal so oft krankgeschrieben.

Insgesamt ist der Krankenstand der in Deutschland beschäftigten in den letzten zehn Jahren um ganze 70 Prozent gestiegen. An erster Stelle stehen dabei immer noch mit knapp ein viertel der Fehltage und mit 63 Prozent gestiegenen Fallzahlen die Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE). Als Hauptursache für die hohen MSE Krankenstände gilt die demografische Entwicklung, d. h. die ältere Belegschaft. An zweiter Stelle folgen die Fehltage wegen psychischer Belastungen bei der Arbeit, die im letzten Jahrzehnt sogar um 144 Prozent geradezu explosionsartig zugenommen haben (vgl. #2).

Wirtschaftlich führt dies für die Unternehmen zu enormen Kosten. Einerseits müssen durch die Arbeitgeber für die Entgeltfortzahlung jährlich über 60 Milliarden Euro aufgewendet werden und andererseits entstehend durch Kranke MA Produktionsausfälle von etwa 80 Milliarden Euro.

Um der Entwicklung entgegenzuwirken gibt es für Unternehmen verschiedene Möglichkeiten. Einige sind bereits gesetzlich vorgeschrieben, z. B. der Arbeits- und Gesundheitsschutz (AUG), die Gefährdungsbeurteilung (GB) und das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), während andere freiwillig sind, z. B. betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) und betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM). Besonders in letzteren beiden liegt ein enormes Potenzial. Dies wurde in einer Metastudie (IGA-Report 28) von der Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) nachgewiesen. Demnach können durch eine BGF krankheitsbedingte Fehlzeiten im Durchschnitt um etwa 25 Prozent reduziert werden. Die IGA prognostiziert, dass sich mit jedem in die BGF investierten Euro ein 2,7-Facher ROI (Return on Investment) durch reduzierte Krankheitsfehlzeiten einsparen lässt.

Der POHS-Circle

Da die Umsetzung eines BGM immer von der obersten Leitung der Organisation (OLDO) ausgehen muss, d. h. in der Privatwirtschaft den Stakeholdern bzw. der Unternehmensführung, gilt es in zwei Stufen vorzugehen.

In der ersten Stufe muss die Unternehmens-/Organisationsführung von der Notwendigkeit zur Einführung eines BGM überzeugt werden. In der zweiten Stufe wird im Rahmen eines neuen Führungsprozesses der erforderliche Wandel, d. h. Change und Turnaround, im Unternehmen zur gesundheitsgerechten und leistungsförderlichen Gestaltung von Arbeit und Organisation veranlasst, begleitet, umgesetzt und kontrolliert.

Grafik: Der POHS-Circle. Quelle: Pauling

Für die erste Stufe der Einführung eines BGM eignet sich besonders der POHS-Circle. Die Abkürzung steht für einen Kreislauf aus den Phasen Problem (Problem), Orientierung (Orientation), Hilfe (Help) und Lösung (Solution).

Zur Anwendung des POHS-Circle empfehle ich eine Arbeitsgruppe (AG) nach den Prinzipien des agilen Managements (vgl. FT 181, S. 34–36). Es ist nicht immer ratsam bei der Besetzung der Arbeitsgruppe auf bestehende innerbetriebliche Gruppen zurückzugreifen, z. B. den Arbeitsschutzausschuss (ASA).

Auch wenn der ASA sich bereits in Aspekten der Gesundheit bestens auszukennen scheint, so liegt seiner Arbeit jedoch ein gänzlich gegensätzlicher Blickwinkel zugrunde. Dem Arbeitsschutz (AS) liegt zwar die Gesunderhaltung der MA am Herzen, jedoch aus der Motivation zur gesetzlichen Pflicht zur Unfallverhüttung (UV). Diese Sichtweise ist nicht auf die individuelle Gesundheit des einzelnen MA gerichtet, sondern auf den ihn beeinflussenden Arbeitsplatz als mögliche Krankheitsursache (Ätiologie), d. h. es handelt sich hier um einen pathogenetischen Ansatz. Der AS verbessert den Arbeitsplatz, deren Ausstattung bis hin zur persönlichen Ausrüstung und Arbeits-/Schutzkleidung. Dies jedoch nur dann, wenn es zur Verhinderung von Unfällen bzw. Berufskrankheiten kausal notwendig ist.

Die BGF und dem BGM liegt jedoch der dem AS antagonistische salutogenetische Ansatz zu Grunde. Der Begründer der Salutogenese A. Antonovsky verdeutlichte dies in seiner Flussmetapher. Der Fluss ist der Strom des Lebens, welcher voller Gefahren steckt. Die Pathogenese versucht den Menschen vor dem Ertrinken zu retten, indem sie ihm Rettungsringe zuwirft oder am liebsten den ganzen Fluss trockenlegt. Die Salutogenese will den Menschen dagegen zu einem besseren Schwimmer machen, damit er sich allein über Wasser halten oder am besten entspannt treiben lassen kann.

Die Sichtweise der Salutogenese hat sich in vielen Bereichen durchgesetzt und findet sich u. a. auch in der Gesundheitsdefinition der WHO und Ottawa-Charta wieder. Und obwohl sich dieser Artikel mit der Gesundheit der Mitarbeiter beschäftigt, sollten spätestens an diese Stelle jeder Fitnessstudioinhaber und jeder Trainer ein Aha-Moment haben und sich fragen, ob ihre Positionierung, Arbeitsweisen, Angebote oder Werbung gegenüber den Kunden nicht noch auf den alten pathogenetischen Gedanken beruhen, d. h. z. B. eine Ernährungsberatung die auf Verboten oder eine Rückenschule die auf Vermeidung ausgerichtet ist.

Die Besetzung einer AG sollte daher idealerweise mit Stake- und Shareholdern aus dem Betrieb und mit mindestens einem (ggf. externen) Experten für BGF und BGM sein.

Problem-Phase

In der Problem-Phase gilt es durch die AG zu eruieren ob im Unternehmen ein gesundheitsbezogenes Problem für die MA vorliegt oder in Zukunft vorliegen könnte. Ihr Auftrag soll es sein, mögliche vorhandene oder potenzielle Probleme für die psychische und physische Gesundheit der MA zu finden und nach Möglichkeit zu evaluieren. Hierbei soll der Horizont möglichst uneingeschränkt bleiben, d. h. es soll von den einzelnen Tätigkeiten und Personen, über die Organisationsstruktur bis zur Unternehmenskultur alles durchleuchtet werden.

Ein möglicher Ansatzpunkt für den Anfang ist die einfache Erhebung des MNPS (Mitarbeiter-Net-Promoter-Score). Hieraus kann eine weitere Befragung nach dem Warum erfolgen und inwieweit Arbeitsaufgabe, Arbeitsplatz, andere Mitarbeiter und die Organisation/Struktur als gesundheitsfördernd oder krankmachend empfunden werden. Hierbei ist es natürlich wichtig die jeweiligen betrieblichen Gegebenheiten und die Mitbestimmungsrechte zu beachten, d. h. ob Befragungen anonym, offen oder gar als 360-Grad erfolgen.

Orientierungs-Phase

Die Orientierungs-Phase besteht aus drei Schritten. Erstens erfolgt eine Problemanalyse im Setting. Dabei wird unter Anwendung wissenschaftlicher Falsifizierung u. a. überprüft, ob es die Probleme wirklich gibt bzw. geben kann, in welcher Dimension sie vorliegen und welche Auswirkungen zu befürchten sind. Im zweiten Schritt erfolgt eine Vergleichsanalyse im Setting. Dabei wird intern und extern nach vergleichbaren Beispielen recherchiert und ob und wie diese gelöst werden konnten. Im dritten Schritt erfolgt eine Kosten-Nutzen-Analyse. Bei dieser soll herausgestellt werden, welche Vor- und Nachteile aus der Beseitigung der Probleme entstehen und welche Investitionen und Folgekosten notwendig und welcher ROI wann und in welcher Höhe zu erwarten wären. Da es sich bei diesen Schritten um hoch komplexe Analysen handelt, sollte die AG nicht davor zurückschrecken eventuell externe Spezialisten zu beauftragen.

Hilfe-Phase

Die Hilfe-Phase hat eine doppelte Dimension. Einerseits soll die AG hier alle Aspekte zusammentragen, bei denen Hilfe benötigt wird, sei es intern oder extern, und wie diese Hilfe konkret aussehen sollte. Anderseits soll in dieser Phase eine Präsentation der bisherigen Ergebnisse gegenüber der obersten Leitung der Organisation (OLDO) stattfinden, ohne dabei jedoch die genannten Hilfe Aspekte vorwegzunehmen. Im Idealfall soll die OLDO nach der Präsentation aus psychologischen Gründen selbst zu der gleichen Ansicht gelangen, d. h. dass erstens Handlungsbedarf besteht und zweitens Hilfe benötigt wird. Damit wäre dann das erste Ziel erreicht, d. h. dass die OLDO hinter der Umsetzung des BGM steht.

Lösungs-Phase

In der Lösungs-Phase wird die Arbeit der AG in ein Projekt, auf Basis der Grundlagen des modernen Projektmanagements, überführt, welches sich dann mit den Lösungen zur Umsetzung im Rahmen eines BGM beschäftigt. Die Projektgruppe (PG) sollte die Partizipation aller Stake- und Shareholder ermöglichen und idealerweise von einem qualifizierten hauptberuflichen Gesundheitsmanager geleitet werden. Der Gesundheitsmanager (GM) sollte wiederrum direkt auf Ebene der OLDO angesiedelt sein. Denn nachdem die PG die Lösungen ausgearbeitet hat, liegt es in der Arbeitsaufgabe des GM diese im Führungsprozess umzusetzen. Hierfür eignet sich der vom Autor angepasste achtstufige Führungsprozess (PLP).

Spätestens nach Abschluss der Lösungsphase kann die ursprüngliche AG wieder zusammenkommen, um eine erneute Problem-Phase zu starten, wobei im Idealfall keine der vorherigen Probleme mehr gefunden werden sollten. Werden neue Probleme lokalisiert, können diese dann direkt zur weiteren Bearbeitung an den GM abgegeben werden.

Fazit

Das BGF und BGM für jedes Unternehmen eine Notwendigkeit sind, steht heute unter Experten ausser Frage. Die Einführung eines BGM ist jedoch eine hoch komplexe Herausforderung, die nur unter fachlich und betrieblich qualifizierter Leitung mit Unterstützung des ganzen Betriebes und insbesondere deren Führung möglich ist. Mit Hilfe des POHS-Circle lässt sich nicht nur das BGM initiieren, sondern es kann im Weiteren als ständiges Tool im Rahmen eines Qualitätsmanagements eingesetzt werden. Darüber hinaus eignet es sich ebenso in der Beratung und im Coaching der Führungskräfte.

Abschliessend soll noch darauf hingewiesen werden, dass das Thema der betrieblichen Gesundheit in Zukunft ein enormes weiteres Wachstum erleben wird und hier grosse Chancen für den Nachwuchs und externe Berater liegen. Insbesondere aus der Fitness- und Gesundheitsbrache könnten hier neue Segmente erschlossen werden, die weit über den klassischen Betriebs-/Präventionssport hinausreichen. Denn während sich grosse Unternehmen eine Abteilung bzw. ein Management für die BGF und das BGM leisten müssen, werden insbesondere KMU dies nicht können und daher auf externe Hilfe zurückgreifen, so wie es in der DIN SPEC 91020 vorgeschlagen wird. Und dies insbesondere vor dem vielen Selbstständigen unbekannten Hintergrund, dass die gesetzlichen Vorschriften oft bereits greifen, wenn ein Unternehmen bloss einen einzigen Mitarbeiter beschäftigt.

Quellen

Dr. Kai Pauling

ist Dozent und unabhängiger Experte für Sport Management und Business Administration, insbesondere Fitness-/Gesundheitsmanagement, Change-/Turnaroundmanagement und Unternehmensführung/Personalentwicklung.

Kontakt:

kai.pauling@sporting-expert.com