Management 4.0 – Herausforderung Digitalisierung Die neue Art der Kommunikation in der Fitnessbranche
8. Februar 2020
FIT FÜR MEHR – Neuigkeiten aus der SAFS AG
8. Februar 2020

Qualifizieren statt Betreuen

Auf seinem «Online Medium für Zukunftsideen – ChangeX» bespricht Winfried Kretschmer eine Umfrage zum Thema «Zukunftsmärkte 2020». «Eigenverantwortliche Gesundheitsprävention» zählt darin zu den wichtigsten «Problemlösungsbeiträgen für globale Herausforderungen» und rangiert unter den «Top 10 der Zukunftsmärkte 2020». Die Fitnessbranche hält für diesen Markt den Schlüssel in der Hand, denn dank der aussergewöhnlichen Leistungen der Medizin haben wir Menschen inzwischen eine Lebenserwartung erreicht, die jenseits der Leistungsfähigkeit unserer Muskeln liegt. Jeder, der heute über 30 Jahre alt ist, hat eine Lebenserwartung von 90 Jahren, und das ist statistisch nur möglich, wenn jeder zweite 100 wird. Wir werden also alt, aber laut Bundesamt für Statistik wird jeder zweite Mann pflegebedürftig werden und von vier Frauen sogar drei. Mit anderen Worten wird mehr als die Hälfte der Menschheit seine letzten Jahre – besser: Jahrzehnte – im Pflegeheim zubringen. Genaugenommen hat die Medizin also die Todesstrafe nur durch Lebenslänglich ersetzt. Deswegen sagte Professor Dr. Wildor Hollmann schon vor Jahren, dass die Medizin nicht die Lebenszeit der Menschen verlängert, sondern deren Leidenszeit. Und völlig unabhängig vom Leiden des einzelnen Menschen, wird deren Pflege für die Gemeinschaft unbezahlbar werden.

Sarkopenie, der altersbedingte Muskelverlust, zählt deshalb zu den «globalen Herausforderungen» unserer Zeit. Nur leider weiss das keiner. Es gibt für Sarkopenie «kein Problembewusstsein, auch nicht bei Ärzten». Darauf weist Cornel Sieber als Chefarzt der Klinik für […] Geriatrie […] und Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns […] hin. (Nachzulesen auf «aerzteblatt.de» in dem Artikel «Internisten weisen auf Muskelabbau im Alter hin».) Und selbst dort, wo dieses Bewusstsein unter den Experten langsam erwacht, tappen sie bei der Lösung im Dunkeln. «Eine eiweissbetonte und Vitamin-D-reiche Ernährung» stehe «in der Therapie im Vordergrund, unterstützt durch Bewegung», heisst es in der Literatur. Davon, dass Muskeln wohldosierte und gezielte Wachstumsreize benötigen, damit sie ihre Leistungsfähigkeit nicht verlieren, hört man bislang kein Wort. Deshalb hat die Fitnessindustrie zwar den Schlüssel zur Tür eines der interessantesten Märkte unserer Zeit in der Hand, aber sie wird die Tür zu diesem Markt nur aufstossen können, indem sie selbst das Problem an die Öffentlichkeit trägt.

Wie in der Abbildung gezeigt, führt der Weg zu mehr Wachstum, der Weg zu den 90 Prozent der Menschen, in deren Bewusstsein die Wichtigkeit starker Muskeln bis heute noch nicht vorgedrungen ist, über die Vermittlung von Erkenntnissen. Bevor diese 90 Prozent der Menschen ihr Verhalten ändern, wollen sie die Sinnhaftigkeit hinter dem verstehen, was sie da tun. Erst, wenn sie das «Warum» verstanden haben, werden sie beginnen, sich für das «Wie» zu interessieren. Das ist die Erkenntnis, die die Fitnessbranche gewinnen muss, bevor sie sich den spannenden Zukunftsmarkt der eigenverantwortlichen Gesundheitsprävention erschliessen kann. Ein «Leute, ihr müsst was für eure Muskeln tun» wird dafür jedoch definitiv nicht ausreichen. In das Bewusstsein der Menschen vorzudringen, ist ein mühevoller Weg, den der Verhaltensforscher Konrad Lorenz folgendermassen beschrieben hat:

Gedacht heisst nicht immer gesagt,

gesagt heisst nicht immer richtig gehört, gehört heisst nicht immer richtig verstanden, verstanden heisst nicht immer einverstanden, einverstanden heisst nicht immer angewendet, angewendet heisst noch lange nicht beibehalten.

Wer Wachstum anstrebt und 100 Prozent der Menschen für das Muskeltraining gewinnen will, der darf nicht denken, die Leute wüssten doch, dass sie was tun müssen. Es reicht auch nicht, wenn man es ihnen sagt. Damit die Menschen verstehen, wie wichtig es ist, sich eine kräftige Muskulatur zu erhalten, und sie damit einverstanden sind, Muskeltraining als die wichtigste Form der Körperpflege wirklich anzuwenden, müssen die Betreiber der Fitnessclubs in der Lage sein, Menschen mit ihren Vorträgen zu fesseln und für das Muskeltraining zu begeistern. Nur, wenn sie es verstehen, die Menschen zu begeistern, werden sie das Bewusstsein für starke Muskeln in ihnen wecken und die Muskelpflege zu einem so selbstverständlichen Teil der Körperpflege werden lassen, wie es die Zahnpflege schon längst geworden ist.

Damit 100 Prozent der Menschen das Muskeltraining aber nicht nur anwenden, sondern als lebenslange Routine auch beibehalten, bedarf es allerdings nicht nur wichtiger Erkenntnisse, sondern auch der entsprechenden Ergebnisse. «Ich habe durch Training 5 kg abgenommen» und «Mein Rücken tut nicht mehr so weh» wird als Erfolgsmeldung auf einer Erfolgswand im Fitnessclub nicht ausreichen, um die restlichen 90 Prozent der Menschheit für das Training ihrer Muskeln zu begeistern. Erfolgswände stellen den Erfolg als Ausnahme dar. Man stelle sich einen Chirurgen vor, der die erfolgreichen seiner Operationen auf einer Erfolgswand zeigt, oder eine Fluggesellschaft ihre erfolgreichen Flüge. Erfolgswände beweisen keinen Erfolg, sie stellen ihn in Frage. Wirklich erfolgreich sind Fitnessclubs erst dort, wo deren Mitglieder auch mit 80 Klimmzüge machen, während die anderen Senioren an Rollatoren gehen, sofern sie aus ihren Pflegeheimen überhaupt noch herauskommen. Damit die Menschen ein Leben lang im Fitnessclub trainieren und über ihren Erfolg reden und ihn zeigen, muss es ein Erfolg sein, der nicht mit Diäten, mit regelmässiger Gymnastik, Joggen oder Schwimmen auch zu erreichen ist. Es muss ein Erfolg sein, der ausschliesslich durch gezielte Wachstumsreize erzielt werden kann, denn das Setzen dosierter, gezielter Wachstumsreize ist das Alleinstellungsmerkmal der Fitnessindustrie. Und solche Erfolge gibt es noch nicht. Zumindest sind sie alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Dort, wo ein Produkt noch gar nicht existiert, für das man einen Plan entwickeln will, nimmt die Indus-trie das Produkt gedanklich vorweg, um dann vom Ergebnis aus rückwärts zu denken. Sie nennt dieses Verfahren Reversed Engineering. In der Zukunftsforschung heisst es Prognostik. Eine der Prognosetechniken ist das «Szenario». Der Zukunftsforscher entwirft also ein «Zukunftsszenario», schätzt es vor dem Hintergrund all seiner Kenntnisse auf sein Potential ab, Wirklichkeit zu werden, und arbeitet dann auf diese Zukunft hin, als sei sie bereits Realität. Ein solches Szenario könnte für die Fitnessindustrie das folgende sein:

Alle Menschen trainieren an Kraftmaschinen. Muskelpflege ist so selbstverständlich wie die Zahnpflege. Deshalb sind die gesunden Menschen aus den Pflegeheimen ausgezogen, damit man sich dort auf die Pflege wirklich Bedürftiger konzentrieren kann. Rollatoren sind aus dem Strassenbild verschwunden. Gesunde Menschen, die eines Rollators bedürfen, um auf ihren eigenen Beinen noch gehen zu können, gelten nicht mehr als «alt», sondern als «ungepflegt». «Gepflegte Senioren» machen mit 80 Jahren Klimmzüge und dürfen auch im fortgeschrittenen Alter ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches und würdevolles Leben in Freiheit führen. Sarkopenie ist ungefähr so häufig wie Karies und jeder weiss, dass er sich durch entsprechende Körperpflege die Gesundheit seiner Zähne ebenso erhalten muss wie die Kraft seiner Muskeln.

Für diese Zukunft hält die Fitnessindustrie den Plan in der Hand. Damit ihr jedoch nicht nur 10 Prozent, sondern alle Menschen in diese Zukunft folgen, sind Erkenntnisse und Ergebnisse das, was sie dafür liefern muss.

Während Erkenntnisse und Ergebnisse für das Wachstum in der Fitnessbranche die Motoren sind, wirkt sich die «Kernkompetenz: Kundenbetreuung» der Einzelstudios geradezu hemmend auf das Wachstum aus. Nicht von ungefähr bezeichnen die Amerikaner das Ausführen der Übungen an Trainingsgeräten als «Workout Routines». Sie drücken damit aus, um was es sich bei den «Kraftübungen» wirklich handelt: Alltägliche Routinen! Kniebeugen und Bankdrücken sind keine anspruchsvollen, sportlichen Bewegungsabläufe, sondern Alltagsbewegungen, die die Menschen unter Belastung ausführen, um im Alltag vor diesen Alltagsbelastungen besser geschützt zu sein. Denn selbst der 100jährige macht seine erste Kniebeuge am Morgen, wenn er aus dem Bett aufsteht.

Kniebeugen im Fitnessclub auszuführen ist eine sicher weniger anspruchsvolle Routine, als die Teilnahme am Strassenverkehr. Ein Kind, das morgens im Berufsverkehr mit dem Fahrrad zur Schule fährt, ist auf dem Schulweg allemal gefährdeter als ein erwachsener Mensch bei der Ausführung seiner Übungen im Fitnessclub. Aus diesem Grund gibt es Regeln, die von den Verkehrsteilnehmern einzuhalten sind, aber betreutes Autofahren gibt es deshalb noch lange nicht. Die Kinder machen ihren «Fahrradführerschein» und damit meistern sie den Weg zur Schule selbst. Machen sie später ihren Führerschein, ist «betreutes Autofahren» nur ein zeitlich begrenztes Angebot. Es richtet sich an Jugendliche, die ihren Führerschein bereits vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres machen. Dann aber fahren auch sie ihr Auto selbst. Den «Personal Chauffeur» leisten sich nur Privilegierte, so wie den «Personal Trainer» auch. Der Rest der Menschheit fährt selbst, und so wird der Rest der Menschheit in Zukunft auch seine Muskeln trainieren: Eigenverantwortlich und selbständig! Die Einzelstudios sollten deshalb ihre Kunden nicht bei der Durchführung alltäglicher Routinen betreuen, sondern sie sollten sie auf das Training adäquat vorbereiten, indem sie sie qualifizieren. Betreuung widerspricht der Eigenverantwortlichkeit und hemmt zudem die Einzelstudios in ihrer Fähigkeit zum Wachstum. Denn wie weit wären wir mit der Zahnpflege bis heute gekommen, wenn wir die Menschen beim Zähneputzen betreuen wollten? Für das Wachstum der Branche ist die Ausführung der Übungen unwichtig, denn niemand spricht vom Zähneputzen, aber alle wissen, wie wichtig die Zahnpflege ist, und sie zeigen mit ihrem Lächeln das strahlende Ergebnis.

Die Betreuung der Menschen bei der Ausführung alltäglicher Routinen wie im Muskeltraining ist eine Verschwendung menschlicher Ressourcen, die in der Vermittlung von Erkenntnissen und im Erreichen der Trainingsziele dringend benötigt werden. Deshalb sollten sich die Einzelstudios statt auf die Betreuung ihrer Kunden auf deren Qualifizierung konzentrieren. Die Fitnessindustrie steht nicht für Pflege und Betreuung, sondern für Eigenverantwortlichkeit. Die eigenverantwortliche Gesundheitsprävention ist der Markt der Zukunft, und dafür können wir nicht 10 Prozent der Menschen gewinnen, sondern wir gewinnen sie alle. Wir müssen es nur tun. 

Andreas Bredenkamp

Jahrgang 1959

Studierte Germanistik und Sport, Autor des Buches „Erfolgreich trainieren“ und des „Fitnessführerscheins“