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Traue keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast!

Studien begegnen uns in vielfältiger Art und Weise – doch kann man ihnen trauen? Was erfahren wir in Studien neues, was uns die Praxis nicht schon längst offenbart?

«Entschuldige bitte, könntest du mir einen Tipp geben, wie ich meine Brust am besten trainieren kann?» Ein Trainierender sprach mich gerade an, als ich meine Cable-Cross Chest Flys an den Kabelzügen beendet hatte. «Ähm…, ja klar», antwortete ich verwundert, «was genau willst du wissen?» Während ich mich nach einem Trainer auf der Fläche umschaute, der sich im Discount-Fitnessclub traditionell eher versteckt, fuhr der Trainierende fort: «Ich habe erst mit dem Training angefangen und habe diese Übung schon bei vielen gesehen, kannst du sie empfehlen?» Da hatte sich der Trainierende (Markus, wie sich später herausstellte), genau den Richtigen für diese Frage ausgesucht. Ich versuchte dem Trainingsanfänger sportwissenschaftlich korrekt und dennoch einfach zu erklären, dass es sinnvoll ist, einen Muskel in sämtlichen seiner anatomischen Funktion zu trainieren, um möglichst verschiedene und (bei entsprechendem Trainingswiderstand und Spannungsdauer) auch alle Muskelfasern zu trainieren. «Und warum trainierst du so langsam, das macht sonst niemand hier?» Er fuhr fort: «Alle die hier trainieren und Maschinen sind, machen schnelle Wiederholungen mit viel Gewicht!»

Stimmt, denn mit dieser Beobachtung lag Markus absolut richtig – nämlich, dass ich nicht zu den «Maschinen» im Club zähle, und dass fast alle Bodybuilder im Club auf diese Weise trainieren und die massive Masse an Muskeln ihnen ja schliesslich auch Recht gibt, oder? Für Markus ist das eine logische und nachvollziehbare Schlussfolgerung – wer eine Maschine mit massiver Brust sein will trainiert mit hohem Gewicht und schnellen Bewegungen. Der Experte weiss an dieser Stelle natürlich, dass die Übungsauswahl sowie das Trainingsprinzip nur zwei von vielen Variablen darstellen, die das Trainingsergebnis «Muskelaufbau» beeinflussen und das schnelle Bewegungen die intern geleistete Muskelarbeit und damit -ermüdung reduzieren. Markus jedoch schliesst aufgrund der Beobachtung mehrerer Einzelfälle auf einen systematischen Zusammenhang und verallgemeinert diesen Tatbestand. Wer grundsätzlich aufbauen will, braucht viel Gewicht und muss schnelle Wiederholungen ausführen. Würde die Schlussfolgerung womöglich anders ausfallen, wäre Markus in einem anderen Fitnessclub gelandet oder hätte er seine Beobachtungen gleich in einer Vielzahl an Clubs gemacht?

Dieses einfache Beispiel aus der Praxis verdeutlicht uns, wie die blosse Wahrnehmung eines beobachtbaren und realen Zustandes aus der Praxis zu verschiedenen Wirklichkeiten führen und Zusammenhänge verschiedener Variablen verzerren kann.

(Empirische) Studien: Überprüfung der Wirklichkeit

Hier möchte uns die Wissenschaft einen Gefallen tun, indem nach einem bestimmten Schema, systematisch Erfahrungen gemacht und daraus Erkenntnisse gezogen werden, die Aussagen über die Realität zulassen. Dabei sollen insbesondere mögliche Verzerrungen weitestgehend ausgeschlossen werden. Nachdem man sich zunächst über den aktuellen Stand des Wissens informiert hat um zu erfahren, welche Zusammenhänge bereits untersucht wurden, würde man gleich mehrere Personen mit ähnlichen Merkmalen (Bodybuilder im Fitnessclub) unterschiedlicher Herkunft beobachten. Da es in jeder Zielgruppe individuelle Unterschiede wie beispielsweise Lebensstil, Ernährung, Alter, genetische Dispositionen usw. gibt, möchte man über den Einzelfall hinausgehen und möglichst Aussagen über «alle Bodybuilder» treffen können. Da «alle Bodybuilder» etwas weit gefasst ist und dies bedeuten würde, dass wir Trainingsbegeisterte auf der ganzen Welt beobachten müssten, beschränken wir uns zunächst auf ein Land und eine Region und befragen jeweils 20 Personen aus 10 Clubs. Aber Achtung: Zunächst sollten wir definieren, welche Merkmale eine Person überhaupt aufweisen muss, um als «Bodybuilder in einem Fitnessclub» durchzugehen und in die Stichprobe mitaufgenommen werden zu können.

Wenn also schnelle Wiederholungen und viel Gewicht das optimale Rezept für den Muskelaufbau sind, dann müsste dieses Verhalten durchgehend in der Stichprobe beobachtet werden können. Wenn wir diese Untersuchung nun genau so durchführen würden, liesse sich dieses Trainingsmuster möglicherweise tatsächlich bei einer Vielzahl Trainierender beobachten. Bei einer grösseren Stichprobe ist es jedoch ebenfalls durchaus möglich, dass darunter einige Trainierende sind, welche mit langsamen Bewegungen und einem moderaten Gewicht trainieren und die entsprechenden Merkmale ebenfalls aufweisen. Diese Beobachtung würde weitere Fragen aufwerfen und man frage sich an dieser Stelle, welche Trainingsmethode nun zu bevorzugen wäre?

Um dieser Frage nachzugehen würde man in einer weiteren Untersuchung die beiden Trainingsmethoden miteinander vergleichen. Man würde die Trainierenden aus der gezogenen Stichprobe gleichmässig auf zwei Gruppen verteilen. Gruppe «schnell» trainiert über einen definierten Zeitraum mit schnellen Wiederholungen und viel Gewicht, während Gruppe «langsam» über den gleichen Zeitraum langsam und mit moderatem Gewicht trainiert. Noch vor dem Start der Trainingsphase würde man mit geeigneten Messmethoden das Ausgangsniveau beider Gruppen ermitteln (Alter, Gewicht, Muskelmasse, Kraft usw.).  Zusätzlich sollten bestimmte Variablen (Ernährung, Lebensstil, weitere körperliche Aktivitäten usw.), welche das Trainingsergebnis beeinflussen, erfasst und kontrolliert werden, damit diese Faktoren das Ergebnis nicht ungewollt verzerren. Ebenfalls sollte so weit wie möglich sichergestellt werden, dass die Trainierenden aus beiden Gruppen auch exakt nach den entsprechenden Trainingsmethoden trainieren und nicht noch zusätzliche Trainings absolvieren, welche die Trainingswirkung beeinflussen könnten.

Nach einer längeren Trainingsphase würde man dann exakt dieselben Messungen wie zuvor erneut durchführen und die Ergebnisse aus beiden Gruppen miteinander vergleichen. Welche Trainingsmethode hat wohl die Nase vorne? Das wäre doch einmal eine Studie Wert oder nicht?

Wissenschaftler vs. Praktiker

Wissenschaftler und Praktiker leben oftmals in zwei verschiedenen Welten. Wissenschaftler beklagen sich darüber, dass viele Praktiker sich nicht regelmässig fortbilden und sich nicht an den neusten Erkenntnissen aus Studien orientieren, sondern sich vieles aufgrund der eigenen Erfahrungswerte herleiten. Die Praktiker stören sich daran, dass in der Praxis beobachtbare Phänomene in der Wissenschaft noch nicht belegt wurden beziehungsweise nicht existieren, sofern sie nicht in Studien nachgewiesen wurden. So bestehen Trainings- und Therapiepraktiken, welche keinen oder nur wenig wissenschaftlichen Bezug aufweisen. Auf der anderen Seite gibt es Studien, die dem einen oder anderen völlig realitätsfern erscheinen und die komplexen Phänomene in der Praxis nicht ausreichend erklären können. Die wissenschaftliche Forschung ist darum bemüht, dieser Forderung der Erklärung von komplexen und praxisrelevanten Situationen so gut wie möglich Rechnung zu tragen. Dabei kann naturgemäss jedoch nicht vom Einzelfall ausgegangen werden, da dies zu einer verzerrten Wahrnehmung führen könnte, wie wir im vorherigen Beispiel von Markus gesehen haben. Um für die Allgemeinheit gültige Aussagen treffen zu können, muss über den Einzelfall und die interindividuellen Unterschiede hinausgegangen werden.

Wissen ist Macht

Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen sind insbesondere dann besonders wertvoll und aussagekräftig, wenn diese in einer Vielzahl von Studien aus verschiedenen Regionen und Ländern unabhängig voneinander bestätigt werden können. Diese Erkenntnisse bilden dann die Ausgangsbasis, an welcher sich in der Praxis orientiert werden sollte. Ausgehend davon obliegt die grosse Herausforderung dem Praktiker, die entsprechenden Erkenntnisse im konkreten Einzelfall zu berücksichtigen und individuelle Ansätze und Lösungen zu finden. Es könnte dann als Aufgabe des Praktikers angesehen werden, entsprechende Impulse aus praxisrelevanten Themen und Situationen an die Wissenschaftler zu liefern, welche sich diesen Themen dann in wissenschaftlichen Untersuchungen widmen.

An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Aussage «ein Trainer im Discount Fitness-Club würde sich traditionell verstecken und sei nicht auf der Trainingsfläche anwesend» auf meiner selektiven Wahrnehmung aufgrund persönlicher Erfahrungen beruht, aber keinesfalls dem Regelfall entsprechen muss. Würde man hier eine Vergleichsstudie durchführen wäre es durchaus denkbar, dass ausgewählte Discounter in der Flächenbetreuung durchaus besser abschneiden, als so mancher vermeintliche Premium-Club. Würden Sie diese Studie lesen?

Felix Zimmermann

starperformance AG

www.starperformance-consulting.com