Von «citius, altius, fortius» zu «gesund, agil und kraftvoll»
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Auf dem Behandlungsstuhl mit der Migros
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Was uns die Lockdowns lehren…

Paul Eigenmann / QualiCert AG

Was geht hier vor…

Die Ansteckungszahlen steigen, die Inzidenzen auch, Lockdown «Nummer 2» wird verhängt. ÖV, Flugplätze, Lebensmittelgeschäfte bleiben offen, sie sind systemrelevant*. Alle anderen Dienstleistungen – auch die Restaurants und Fitnesscenter bleiben geschlossen.

Der Lockdown wird gelockert. Fitness- und Trainingscenter bleiben geschlossen, aber Coiffeurgeschäfte werden geöffnet, sie sind offensichtlich systemrelevanter als viele weitere Dienstleistungen, unter anderem auch die Fitness- und Trainingscenter.

Der Lockdown erfährt weitere Lockerungen, aber zusammen mit weiteren Branchen bleiben die Restaurants und auch die Fitnesscenter geschlossen, während Erotikbetriebe geöffnet werden. Sie scheinen systemrelevanter zu sein.

Mit der Öffnung der Detailhandelsgeschäfte tritt fast Normalität ein, allerdings bleiben die Fitness- und Trainings-center zusammen mit anderen Branchen weiterhin geschlossen, weil sie offensichtlich als weniger systemrelevant angesehen wird.

Wie kommt es, dass unsere Branche, die doch aus gesundheitlicher Sicht eine so wichtige Dienstleistung erbringt, bezüglich ihrer Systemrelevanz so gering eingeschätzt wird? Es ist wohl gleich wie bei allen Botschaften, die verkündet werden: Der Empfänger nimmt etwas Anderes wahr, als der Sender mit seiner Message bezwecken wollte. Es lohnt sich zweifelsohne, über diese Diskrepanz nachzudenken, denn die Angelegenheit ist durch viele Faktoren bestimmt.

Viele Hunde sind des Hasen Tod!

Ist die Fitnessbranche wirtschaftlich schlicht zu unbedeutend, als dass sie in den Überlegungen der Entscheidungsträger überhaupt eine Rolle spielen kann. Dies ist wohl kaum der Grund; denn auch die Gastronomie bleibt geschlossen, obwohl sie bezüglich der Grundkennzahlen 15 bis 20 Mal grösser ist als die Fitnessbranche. Rund 22’000 Gaststätten (Fitnesscenter 1’100-1’300, je nach Definition) beschäftigen etwa 430’000 Personen (Fitnesscenter ca. 30’000 Mitarbeitende) und erzielen einen Umsatz von rund 15 Milliarden (Fitness-center über 1 Milliarde). Die relative wirtschaftliche Unbedeutsamkeit allein kann nicht der Grund sein, warum Fitnesscenter nicht als systemrelevant eingestuft werden; denn eigentlich verfügt die Fitnessbranche über ein gerade aus gesundheitlicher Sicht enorm starkes Alleinstellungsmerkmal.

Dieses Alleinstellungsmerkmal der Fitnessbranche ist effektives Muskeltraining für jede Frau und jeden Mann. Das Muskeltraining – im deutschsprachigen Bereich in der Trainingslehre zur Leistungssteigerung als Krafttraining bekannt – ist aber nicht nur effektiv, sondern mit den stationären Trainingsgeräten auch effizient! Und Muskeltraining wird auf Grund der demographischen Entwicklung auch noch immer wichtiger! Sarkopenie (Muskelschwund) ist eine der wichtigsten Ursachen der Pflegebedürftigkeit im Alter – zusammen mit Demenz. Ein renommierter Altersforscher hat einmal gesagt: Wer nicht mehr vom Klo aufstehen kann, kann auch nicht mehr selbständig und unabhängig leben. Ob man das noch kann, ist im Wesentlichen eine Frage der Kraft der Bein- und Gesässmuskulatur. Deshalb ist auch der Oberschenkelumfang ein sehr guter Indikator für Pflegebedürftigkeit im Alter.

Das sechste Alter macht den besockten hagern Pantalon,

Brill‘ auf der Nase, Beutel an der Seite;

die jugendliche Hose, wohl geschont,

’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;

die tiefe Männerstimme, umgewandelt zum

kindischen Diskante, pfeift und quäkt In feinem Ton.

William Shakespeare / «Wie es euch gefällt»

Zwar werden einige einwenden, dass Muskeltraining auch mit dem eigenen Körpergewicht betrieben werden kann. Dazu ist festzuhalten, dass dies wohl stimmen mag – für einen «Navy Seal», aber nicht für Otto Normalverbraucher, der kaum mehr einen einzigen Klimmzug schafft. Von der Effizienz, welche das gerätegestützte Muskeltraining im Fitnesscenter bietet, einmal ganz abgesehen… Muskeln und all deren Dienstleistungssysteme und -organe sind der Hauptunterschied zwischen Tier- und Pflanzenwelt (Fauna und Flora). Muskeln wurden im Laufe der Evolution unter ähnlichen Umweltbedingungen mehrmals erfunden. Muskeln sind fast eine Milliarde Jahre alt und belegen, dass die Verhältnisse Entwicklungen (und auch das Verhalten) bestimmen und nicht umgekehrt.

Bewegung:

genetisch geprägtes Verhalten

So viel wie nötig, so wenig wie möglich!

Die Muskeln sichern den Tieren im Gegensatz zu den Pflanzen «Automobilität», eine enorm wichtige Eigenschaft für die ganze Tierwelt (inkl. Menschen), die aber ihren Preis hat. Die Muskeln sind «Energieschleudern». Die durch Muskelkontraktion erzeugte Bewegungsenergie beträgt nur rund der 30% benötigten Energie, 70% der für eine Muskelkontraktion verbrauchten Energie werden zu Wärmeenergie, zu Abwärme sozusagen. Weil Energie aber stets knapp war und immer noch knapp ist, lernten alle Wesen der Tierwelt, sich so viel zu bewegen wie nötig, aber so wenig als möglich. Regelmässiges Muskeltraining ist schon aus diesem Grunde nicht einfach zu verkaufen! Die Nutzung eines Handys ist weit weniger energieintensiv und genau deshalb viel einfacher zu verkaufen. Auch für regelmässiges Zähneputzen als Verhaltensweise ist auf Grund des relativ tiefen Energiebedarfs der Überzeugungsaufwand einfacher zu verkaufen. Auch für regelmässiges Zähneputzen als Verhaltensweise ist auf Grund des relativ tiefen Energiebedarfs der Überzeugungsaufwand geringer. Trotzdem ist selbst die «Marktdurchdringung» von Zähneputzen auch nach hundert Jahren nicht hundert Prozent.

Die Marktdurchdringung für Fitnesstraining beträgt in der Schweiz aktuell knapp 14%. Sie kann und wird steigen, aber bei weitem nicht auf prozentuale Anteile wie bei der Nutzung vom Smartphones oder beim Zähneputzen. Die Marktdurchdringung von 14 Bevölkerungsprozenten führt in der aktuellen Pandemie dazu, dass – wenn auch noch von gleich vielen Ex-Mitglieder ausgegangen wird – 70% der Schweizer Bevölkerung Fitnesstraining und dessen Wert nicht aus eigenem Erleben, sondern nur von den öffentlichen Auftritten der Fitnessbranche kennen. Und unter diesen 70% der Schweizer Bevölkerung befinden sich gewiss auch einige Entscheidungsträger. Die Muskulatur hat es schwer, ihrer Gesundheitsbedeutung entsprechend wahrgenommen zu werden. Berufe, die körperliche Arbeit mit sich bringen, werden eindeutig weniger gesucht und sind in der Regel tiefer bezahlt. Und beim «Homeschooling» waren Kinder von Eltern, die nicht als «Sitzberufler» im «Homeoffice» waren, sondern in irgendeiner Weise einer körperlichen Arbeit nachgingen, gleich doppelt benachteiligt.

Zwar sind zunehmend Bemühungen aus der Fitnessbranche festzustellen, die Bedeutung von Muskeltraining für gesundheitliche Aspekte hervorzuheben, aber so schnell wird dies den vorherrschenden Eindruck, den die beiden grossen Role Models Arnold Schwarzen-egger und Jane Fonda am Anfang des Booms der Fitnessbranche geschaffen haben, nicht verdrängen. Das ist auch nicht nötig; denn auch Muskeltraining für Schönheit ist gesund, aber ist es auch systemrelevant?

Fazit

  • Fitnesscenter und ihr Angebot werden nicht als systemrelevant angesehen, denn:
  • die Branche ist wirtschaftlich nicht bedeutend genug, selbst der viel grösseren Gastronomie geht es gleich;
  • die Branche bedient zu wenig Kunden, als dass sie deshalb systemrelevant sein könnte, selbst die Gastronomie ist diesbezüglich nicht bedeutend genug;
  • die Branche ist noch nicht als gesundheits- und deshalb systemrelevant anerkannt. Noch prägen Attraktivität und Lifestyle das Image der Branche zu stark.

Ein umfassenderer Ansatz tut not

Die enorme Bedeutung der Muskulatur für das Wesen Mensch muss breit und auf viele Bedürfnisse ausgerichtet bewusstgemacht werden. Die Muskulatur ist seit beinahe 1’000’000’000 Jahre das Merkmal der Tierwelt inklusive Mensch! Fast unser ganzer Organismus – vom Herz-Kreislaufsystem über die Lunge, Leber und Nieren etc. bis zum Gehirn mit der motorischen Hirnrinde – dient dem umweltstimmigen Einsatz der Muskulatur. Werner Kieser hat dies schon vor Jahrzehnten gewusst und die umfassende Wirkung in seinem Buch «Die Seele der Muskeln» beschrieben. Aber die Muskulatur hat eben für jede und jeden etwas. So hat der bekannte Schönheitschirurg Dr. med. Werner Mang einmal gesagt: «Ohne Muskeln keine Schönheit». Und ob ein junger Bursche für einen V-Oberkörper trainiert, eine alte Frau, damit sie ihren Einkauf nach Hause tragen kann, ein Internist seinen an Diabetes leidenden Patienten ins Fitnesscenter schickt, der orthopädische Chirurg dem operierten Patienten zur Stabilisierung und Stützung Muskeltraining empfiehlt oder der Politiker etwas für einen kraftvollen, vitalen Eindruck tun will, ist grad einerlei: Muskeltraining ist in jedem Fall gesund.

* Systemrelevant sind Organisationen, Unternehmen, Produkte, Dienstleistungen und Berufsgruppen, deren Bedeutung die die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens unverzichtbar sind.