Eine kritische Betrachtung der Beugetiefe
Die Kniebeuge ist und bleibt wohl eine der meistdiskutierten Übungen sowohl im Fitnesscenter als auch allgemein im Sport. Zwar ist der Nutzen dieser Übung unumstritten, mit welcher Beugetiefe der optimale Nutzen erreicht wird aber umso mehr. Doch welche Rolle spielt der Bewegungsumfang wirklich?
Die Langhantel-Kniebeuge ist eine mehrgelenkige Ganzkörperübung, die mehrere grosse Muskelgruppen gleichzeitig anspricht. Als eine der effektivsten Übungen zur Entwicklung der Muskulatur der unteren Extremitäten ist sie sowohl bei Spitzen- als auch bei Freizeitsportlern sehr beliebt. Trotz ihrer Beliebtheit und dem nachgewiesenen Nutzen bleiben jedoch Fragen zur effektivsten Variante und zur optimalen Ausführung, insbesondere in Bezug auf die Tiefe der Kniebeugen, die Standbreite, die Position der Füsse sowie auch zur Ablage der Langhantel. Während die Standbreite und die Position der Füsse einen gewissen anatomischen Spielraum haben, ist die Kniebeugentiefe mittlerweile recht gut dokumentiert.
Welche Varianten sieht man häufig im Fitnesscenter?
Zu den Varianten der Langhantel-Kniebeuge, die in Fitnesscentern wohl am häufigsten ausgeführt werden, zählt unter anderem die Frontkniebeuge, bei der die Langhantel auf dem vorderen Anteil der Schulter abgelegt wird (Front Squat). Die vermutlich noch etwas populärere Variante ist die Na- ckenkniebeuge, bei der die Langhantel entweder mit hoher Ablage (High Bar) auf dem absteigenden bzw. oberen Teil des Trapezmuskels oder mit tiefer Ablage (Low Bar) unter- halb der Knochenleiste der Schulterblätter (Spina scapulae) abgelegt wird.
Welche Beugetiefe ist zu empfehlen?
Abgesehen von den verschiedenen Varianten der Langhantel-Kniebeuge, deren Unterschiede in der Regel eher für leistungsorientierte Sportler relevant sind, gerät in der Trainingspraxis immer wieder der optimale Bewegungsumfang, also die Beugetiefe, in den Fokus der Diskussionen. Aus anwendungsorientierter Sicht kann hierbei die «parallele Kniebeuge» für viele Trainierende als optimal angesehen werden.
Der Bewegungsumfang der parallelen Kniebeuge wird so definiert, dass sich je nach Variante ein Kniewinkel zwischen 60 und 70 Grad ergibt (Hartmann & Wirth et al., 2014). Einer anderen Definition zufolge, an die auch die Bezeichnung angelehnt ist, sollte der Körper bei der Kniebeuge so tief abgesenkt werden, dass sich die Leistenfalte und die Oberseite des Quadrizeps parallel in der horizontalen Ebene befinden, oder anders gesagt, dass sich das Hüftgelenk unterhalb des Kniegelenks befindet. Im Vergleich dazu wird die halbe Kniebeuge bis ca. 80–100 Grad und die Viertelkniebeuge bis ca. 110–140 Grad Kniewinkel ausgeführt (Caterisano et al., 2002; Hartmann & Wirth et al., 2014).
Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Kniebeugen mit einer Tiefe unter 90 Grad Knieflexion noch als vermeintlich ungesund und knieschädigend verpönt. Experten aus Wissenschaft und Praxis sind sich mittlerweile einig, dass die Knie mindestens so weit zu beugen sind, dass die Oberkanten der Oberschenkel parallel zum Boden verlaufen, um die Kraft optimal zu entwickeln (Zawieja, 2013; Hartmann & Tünnemann, 1993).
In diesem Kontext muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass bei solchen Aussagen zur Beugetiefe immer von einem gesunden Knie ausgegangen wird.
Maximale Beugetiefe = optimale Beugetiefe?
Auf Kniebeugen mit maximaler Beugetiefe, in der Praxis auch als «ATG Squat» («ass to grass») bezeichnet, kann ausser bei olympischem Gewichtheben, wo es die Sportart erfordert, aus den nachfolgend dargestellten Gründen verzichtet werden.
Sie verlangt eine sehr gute Beweglichkeit im Hüftgelenk und Sprunggelenk, um die Wirbelsäule aufgerichtet zu halten und ein Runden der Lendenwirbelsäule, einen sogenannten Butt Wink, sowie eine Vorneigung des Oberkörpers zu vermeiden. Die Erreichung einer dafür ausreichenden Beweglichkeit ist in der Regel mit einem hohen Zeitaufwand verbunden, der in Relation zu einem recht geringen Ertrag führt. Geht man davon aus, dass durchschnittliche Fitnesscenterbesucher ein bis zwei Stunden pro Woche trainieren und das Training der unteren Extremitäten nur einen Teil dieser Zeit einnehmen kann, muss ein Beweglichkeitstraining, das nur zur Vergrösserung der Beugetiefe ausgeführt wird, aus zeitökonomischer Sicht als ineffizient angesehen werden. Natürlich ist Beweglichkeit im Allgemeinen sehr wichtig, allerdings wird bei den meisten Mitgliedern die Motivation zur Erreichung anderer Trainingsziele höher sein als das Bestreben, maximal tiefe Kniebeugen ausführen zu können. Aus diesem Grund werden nachfolgend fünf Argumente dafür dargestellt, weshalb die Beugetiefe bei der parallelen Kniebeuge in den meisten Fällen als optimal angesehen werden kann.
Fünf Argumente für die parallele Kniebeuge
- Kraftverbesserungen sind sehr stark winkelspezifisch (Zatsiorsky, 1996; Gottlob, 2009; Hartmann & Tünnemann, 1993). Parallelkniebeugen bewirken eine Kraftzunahme über einen deutlich grösseren Gelenkumfang als Viertel- oder halbe Kniebeugen.
- Bei der Parallelkniebeuge können deutlich kleinere Zusatzgewichte bewältigt werden als bei einer Viertel- oder halben Kniebeuge. Dies reduziert die Rücken- und Kniebelastung grundsätzlich.
- Trotz der geringeren Trainingslast treten im Umkehrpunkt der Parallelkniebeuge höhere dynamische Kraftmaxima – und folglich auch höhere Spannungsreize – auf als bei der Viertel- oder halben Kniebeuge (Hartmann & Wirth et , 2014).
- Tiefere Kniebeugen führen zu einer verbesserten Übertragung der gewonnenen Kraft in Sprung oder Sprint als Viertel- oder halbe Kniebeuge (Hartmann & Wirth et , 2014).
- Die längere Spannungsdauer auf die Muskulatur bei tieferen Kniebeugen hat möglicherweise einen positiven Effekt auf die Muskelentwicklung (Hypertrophie). Im Fitnesscenter sieht man häufig halbe Kniebeugen, bei denen hohe Lasten verwendet werden können, was bei unwissenden Beobachtern häufig Eindruck Der Trainingseffekt bleibt im Vergleich zur parallelen Kniebeuge allerdings langfristig geringer, während durch die höheren Lasten eine stärkere Belastung auf die passiven Strukturen wirkt.
«Mobilität vor Technik vor Last»
Die Beugetiefe ist sowohl im leistungsorientierten Sport als auch im Fitnesscenter hinsichtlich der Gesundheit sowie der Effektivität und Sicherheit von sehr grosser Relevanz. Bei der parallelen Kniebeuge können weniger hohe Lasten bewegt werden als bei der Viertel- oder halben Kniebeuge, wo aufgrund der günstigeren Hebelverhältnisse in den Knie- und Hüftgelenken höhere Lasten bewegt werden können und müssen. Durch diese deutlich höheren Lasten entsteht eine entsprechende Erhöhung der auf die Kniegelenke wirkenden Kräfte sowie eine stärkere Beanspruchung des Rumpfs durch zusätzliche Stabilisierungsarbeit. Aber auch bei der parallelen Kniebeuge ist mit den erwähnten Vorteilen nur unter Einhaltung einer adäquaten Bewegungstechnik zu rechnen, die idealerweise unter professioneller Trainerbetreuung angeleitet und erlernt wurde. Hier zählt der Grundsatz: «Mobilität vor Technik vor Last», wobei die Mobilität nur als Erwerb eines ausreichenden Masses an Beweglichkeit zur verletzungsfreien Bewegungsausführung verstanden werden soll. Nebst der Technik bedarf es auch einer sorgfältigen Planung und Steuerung der Belastung, um optimale Resultate zu erzielen. Unter diesen Voraussetzungen stellt die Parallelkniebeuge eine gute und sichere Trainingsoption dar.
Fazit
Die Kniebeuge mit der Langhantel gilt wohl unbestritten als eine der effektivsten Übungen zum Aufbau der Muskulatur der unteren Extremitäten, wobei die Diskussion über die Unterschiede der verschiedenen Varianten sehr kontrovers geführt wird. Dabei sind diese Unterschiede zwischen den Varianten meist aber viel weniger ausschlaggebend für den Trainingserfolg als die adäquate Beugetiefe, die in diesem Artikel als parallele Kniebeuge definiert wurde. Die Vorteile einer ausreichenden Tiefe der Kniebeuge sind vielfältig: eine verbesserte Kraftentwicklung im Vergleich zu halben oder Viertelkniebeugen sowie eine reduzierte Belastung der passiven Strukturen, wie der Wirbelsäule, der Knie- und der Hüftgelenke. Die Kombination dieser Faktoren führt zu einem effektiveren und risikoärmeren Trainingserfolg. Das mag auf den ersten Blick unlogisch klingen, doch die Vorteile der Parallelkniebeugen sind gut dokumentiert und unterstreichen den Grundsatz, dass die Bewegungsqualität in der Trainingspraxis immer die höchste Priorität einnehmen sollte.
Auszug aus der Literaturliste
Caterisano, A., Moss, R. F., Pellinger, T. K., Woodruff, K., Lewis, V. C., Booth, W. & Khadra, T. (2002). The effect of back squat depth on the EMG activity of 4 superficial hip and thigh muscles. Journal of strength and conditioning research 16 (3), 428–432.
Hartmann, H. & Wirth, K. (2014). Literaturbasierte Belastungsanalyse unterschiedlicher Kniebeugevarianten unter Berücksichtigung möglicher Überlastungsschäden und Anpassungseffekte. Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie, 62 (1), 6–23.
Zawieja, M. (2013). Leistungsreserve Hanteltraining. Handbuch des Gewichthebens für alle Sportarten (2. Aufl.). Münster: Philippka.
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