Kolumne von Eric-Pi Zürcher: Warum wir nicht nicht wählen können

Jeder Mensch trifft in seinem Leben ständig Entscheidungen, die sein Leben enorm prägen. Die Macht, wählen zu können, ist etwas vom Besten, was jeder Mensch in sich hat. Sich an die Freiheit (oder den Zwang) der Wahl zu erinnern, ist für ein gelingendes Leben entscheidend. Die folgenden Zeilen laden dazu ein. 

Tiere wie Ameisen, Bären oder Fische mögen verschieden aussehen, doch haben alle Tiere eines gemeinsam: Sie folgen einem nahezu starren Programm. Dementsprechend verhalten sie sich variantenarm. Nicht so der Mensch. Er ist variantenREICH. (Aus)Wählen gehört zu unserer „Grundausstattung“. Ein Pferd kann zum Beispiel nicht wählen, ob es seine Zukunft in den USA oder in Spanien sieht. Es weiss nicht mal, dass es andere Länder oder Kontinente gibt. 

Das moderne Leben bietet dem Menschen eine Fülle an Möglichkeiten, die noch vor 50 Jahren unvorstellbar oder unmöglich waren. Das macht das kluge Wählen umso bedeutsamer. Die Freiheit zu wählen, kann aber auch Angst machen, denn sie bringt uns in die Verantwortung und verlangt eine grosse Portion Eigendynamik. Das sind schlechte Nachrichten für all jene, die lieber gemütlich zu Hause auf dem Sofa Netflix schauen, um dann mit Haut und Haaren mitzufiebern, wie der Hauptdarsteller sein Ding trotz aller Widerstände durchzieht. Seltsamerweise werden diese Leute nach dem Film erstaunlich passiv, wenn es darum geht, die eigene Lebenssituation positiv zu gestalten. Es scheint, dass sie mit dem Ausschalten des TVs auch die Eigendynamik ausknipsen. 

Wählen als Kraft

Viele Menschen haben vergessen, dass sie wählen. Doch wir tun es jederzeit. Auch ein Zögern oder das Nicht-Entscheiden
ist schliesslich eine Wahl.  Forscher schätzen, dass der Mensch täglich etwa 35 000 Entscheidungen trifft. Circa 90 Prozent davon sollen Kleinigkeiten sein und automatisch bzw. unbewusst getroffen werden (Sahakian & LaBuzetta, 2013). Das ist gut so, denn sonst wäre das Bewusstsein überfordert. Bei grossen Themen wie Partnerschaft oder Arbeit sollten wir dagegen durchdacht entscheiden, da sie wichtige Pfeiler für ein gelungenes Leben sind. 

Wir können das Wählen als Last oder als Lust begreifen. Klar ist aber: Die Fähigkeit, immer wieder zu entscheiden, gibt uns viel Macht. Denn wer wählen kann, kann auch abwählen. Wir können zum Beispiel bestimmen, ob wir den bisherigen Weg weitergehen wollen oder nicht. Dass wir dabei einen Preis zahlen müssen, ist „part of the game“ und ein Merkmal eines reifen Menschen. Das Wählen gehört zum Besten, was uns die Natur mitgegeben hat. Diese Möglichkeit sollten wir als starke Quelle für ein farbenfrohes Leben nutzen.

Wählen als „Steuerrad des eigenen Lebens“

Die Fähigkeit zu wählen, bedeutet keineswegs, dass wir alles richtig machen. Doch wir können auch nach Entscheidungen immer wieder neu entscheiden, indem wir z. B. nachbessern oder abwählen. Deswegen ist unsere Fähigkeit zu wählen so machtvoll, prickelnd und abenteuerlich. Wer das eigene Wählen als athletische EntwicklungsKRAFT sieht, kann die Aufgaben im Leben besser meistern. Ist das nur leicht? Nein, keineswegs! Leiden ist meist leichter als Handeln – doch mit dem Wählen bleiben wir am „Steuerrad des eigenen Lebens“. Und das ist würdevoll. Was uns passiert, mag nicht in unserer Macht stehen. Wie wir darauf reagieren, jedoch schon. 

Wer wählen kann, der kann auch abwählen

Unser Beruf sagt viel über uns aus, und wir verbringen sehr viel Lebenszeit auf der Arbeit. Wer also im Job die Lust verloren hat, ist verloren. Denn ein mieser Job „tötet“ die eigene Lebensqualität und vergiftet oft auch die Partnerschaft. Wenn Sie sich zum Beispiel als junger Fitnesstrainer oder junge Fitnesstrainerin im Studio langweilen und ständig vom Strand auf Hawaii träumen, dann sind Sie weder auf Hawaii noch im Gym. Warum tun Sie sich das an? 

Und falls Sie etwas älter sind: Arbeiten Sie in einem Bereich, den Sie bereits in- und auswendig kennen? Finden Sie den Job schon lange nicht mehr so spannend wie er einst war? Wirkt  die gute Bezahlung als Narkotikum? Was hindert Sie daran, einen anderen Weg zu gehen? Bestimmen andere oder gewisse Statussymbole Ihren Lebenslauf? Falls es so ist, zerrinnt dann nicht Ihre Lebenszeit wie Sand zwischen Ihren Fingern? Die paar Jahrzehnte, die uns auf der Welt zur Verfügung stehen, sollten wir mit Dingen füllen, die unser Herz erwärmen. Nochmals, weil es so wichtig ist: Wer wählen kann, der kann auch abwählen. 

Das gilt auch in der Partnerschaft. In meiner vergangenen Kolumne („Gescheiter scheitern – durch Rückschläge zum Erfolg“, Ausgabe 214) habe ich bereits erwähnt, dass Liebesbeziehungen oft vor allem eines sind – eine Überforderung. Viele überfrachten den Partner mit so hohen Erwartungen, dass selbst Superhelden daran scheitern würden. Anspruch bedeutet immer auch Ablehnung. Denn niemand ist auf die Welt gekommen, um Ihren Ansprüchen zu genügen. Ist es Zufall, dass die Liebesfilme immer genau dann enden, wenn das angebliche Traumpaar endlich zusammenkommt? Eine Partnerschaft ist immer auch ein Trainingslager für die eigene Psyche. Wir erfahren dabei sehr viel über uns. Das ist oft nicht nur lustig. Gut so. Wenn Sie in einer Beziehung leben, dann investieren Sie in diese. Warum? Weil Sie diese gewählt haben. Punkt. Ausrufezeichen! Im Fitnesstraining tun wir das ja auch. Jeder Trainierende weiss, dass die eigene Fitness schwindet, wenn er oder sie keine Zeit und Energie ins Training investiert. Warum soll das in einer Beziehung anders sein? Falls Sie verheiratet sind: Hat Sie jemand gezwungen, diese Frau oder diesen Mann zu heiraten? Eben. Sie haben gewählt und diese Wahl sollten Sie ehren. 

Unzufriedenheit als gewähltes Geschenk

Aber was ist, wenn ich mit der Beziehung oder mit dem Job unzufrieden bin? Meine Antwort: Es ist mehr als okay, unzufrieden zu sein. Lebenskunst ist auch, die eigene Unzufriedenheit als Geschenk anzunehmen. Sie haben richtig gelesen. Als Geschenk. Und zwar ein zweifaches. 

  1.  Kein Leben ist nur „easy going“. Ein müheloses Leben fabelhaft zu finden, ist leicht, doch diese kindliche Illusion zerschellt an den Kanten der Realität. 
  2.  So wie das Blinken der Ölanzeige am Armaturenbrett uns anzeigt, dass etwas fehlt, so können wir uns fragen, was die eigene Unzufriedenheit uns sagen will. Die Antworten darauf können trivial, aber auch grob sein. Oft ist das Erschrecken bloss eine Einsicht in eine neue Wirklichkeit. Da können auch Tränen fliessen. Was nicht schlimm sein muss. Schliesslich weint ein neugeborenes Baby auch, wenn es in ein anderes Leben gelangt. 

Wir wählen immer! Und wer wählen kann, der kann auch abwählen. Was uns passiert, mag nicht in unserer Macht sein. Wie wir darauf reagieren, aber schon. 


Literaturliste

Sahakian, B. & LaBuzetta, J. N. (2013). Bad Moves: How Decision Making Goes Wrong, and the Ethics of Smart Drugs. Oxford: Oxford University Press. 

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Eric-Pi Zürcher

Über den Autor
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Eric-Pi Zürcher

Der eidg. diplomierte Fitness-Instruktor und Swiss-Olympic-Konditionstrainer hat bereits als Trainer, Cheftrainer und Centerleiter in diversen Betrieben rund um Bern gearbeitet. Auch als Personal Trainer war er jahrelang selbstständig. Seit über 12 Jahren ist er hauptamtlich als Fitnesstrainer für den FC Thun tätig. pierzuercher@gmail.com
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