„Beim Sport sind wir eine Gemeinschaft“
Margaritha Dähler-Stettler ist Grossmutter, Vereinsfunktionärin und mehrfache Leichtathletik-Weltmeisterin. Auch im Jahr 2025 wird sie bei der Hallenweltmeisterschaft der Masters in Gainsville an den Start gehen. FITNESS TRIBUNE sprach mit Margaritha Dähler-Stettler über die Entwicklung des Frauensports in den letzten Jahrzehnten, den Verein als zweite Familie und ihre Saisonziele.
FITNESS TRIBUNE: Frau Dähler-Stettler, wie lange machen Sie schon Leichtathletik und wie sind Sie dazu gekommen?
Margaritha Dähler-Stettler: Aktuell bin ich in meiner 62. Leichtathletiksaison! Ich bin in Wabern in der Nähe von Bern aufgewachsen und hatte als kleines Kind schon einen unglaublichen Bewegungsdrang. Ich bin einfach immer umhergerannt. Ich hatte zwei jüngere Brüder, mit denen ich ständig unterwegs war. Wir haben zusammen Fussball und Eishockey gespielt. Das hätte ich gern intensiver gemacht, aber 1963 gab es so ein Angebot für Mädchen leider noch nicht. In der Schule war ich im Sportunterricht immer die Schnellste und diejenige, die am weitesten und am höchsten gesprungen ist. In einem Sportgeschäft habe ich dann per Zufall einen Zettel gesehen, dass in einem Verein Leichtathletik für Mädchen angeboten wurde. Dort habe ich mich angemeldet und 1964 meinen ersten Wettkampf bestritten. 1966 habe ich schliesslich das Aufgebot für die Schweizer Nationalmannschaft bekommen.
Sie sind 1947 geboren und starten aktuell in der Kategorie „W75 Women“, also in der Altersklasse für Frauen ab 75 Jahren. Ab welchem Alter kann man denn bei den Masters mitmachen?
Die Masters-Kategorien fangen international ab 35 Jahren an und die Einteilung geht dann immer in Fünf-Jahres-Schritten, wobei für die Zuordnung zu einer Klasse nicht der Jahrgang zählt, sondern das Alter, das man am ersten Tag des Wettkampfs hat. Mir kann es also passieren, dass ich in zwei Jahren in Finnland während der Europameisterschaft 80 Jahre alt werde, aber noch in der Kategorie über 75 Jahre an den Start gehen muss statt in der Kategorie über 80 Jahre. Ich selbst bin 1984, mit 37 Jahren, das erste Mal bei den internationalen Meisterschaften für Senioren gestartet und habe im Fünfkampf die Bronzemedaille gewonnen. Mit der Staffel sind wir sogar einmal Weltrekord gelaufen und ich habe in den folgenden Jahren mehrere Goldmedaillen und Europa- sowie Weltmeistertitel geholt. Dazu muss man sagen, dass ich mit 40 Jahren in einigen Disziplinen bessere Leistungen gebracht habe als mit 20 Jahren.
Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Sport geändert – aus sportlicher wie aus sozialer Sicht?
Als ich mit Leichtathletik angefangen habe, sind wir nur eine Handvoll Mädchen gewesen. Der Frauensport war zu dieser Zeit noch nicht so weit verbreitet. Es gab kaum Angebote für Mädchen oder Frauen und nur wenige Anlässe, die Frauenkategorien ausgetragen haben. Auch das öffentliche Interesse lag insbesondere auf dem Männersport. Irgendwann ist dann die Zeit gekommen, dass immer mehr Turnvereine Leichtathletik für Frauen angeboten haben. Heute gibt es zum Glück viel weniger Vorbehalte gegenüber dem Frauensport. Man hat erkannt, dass Frauen beeindruckende Leistungen bringen können und genauso hart trainieren wie die Männer. In den meisten Sportarten ist der Frauensport mittlerweile auf Augenhöhe und genauso professionell organisiert wie bei den Männern. Es ist selbstverständlich, dass auch Mädchen und Frauen sich sportlich betätigen. Zu meiner Zeit hiess es noch, dass Frauen keine längeren Strecken laufen dürfen, weil dann „sonst was“ passieren würde. Ich erinnere mich noch an eine Situation in einem Fitnesscenter, wo ich oft mit einer Freundin zum Krafttraining hingegangen bin. Das mag so 25 oder 30 Jahre her sein. Jedenfalls habe ich dort Bankdrücken gemacht, zehn Wiederholungen mit 50 Kilogramm. Ein paar junge Männer haben zur gleichen Zeit trainiert und ich habe gemerkt, wie sie mich belächelt und sich etwas lustig über mich gemacht haben. Ich habe dann extra die Scheiben auf der Stange gelassen und einer der Jungs ist hin und hat mit dem Gewicht gerade mal vielleicht vier oder fünf Wiederholungen geschafft. Am Ende war ich diejenige, die geschmunzelt hat. Heute sind in Fitnesscentern die Frauen genauso an den Kraftgeräten wie die Männer. Auch der allgemeine Gesundheitsaspekt von Sport ist mittlerweile den meisten bekannt.
Sie sind dem Sport sehr verbunden und haben nach der Geburt Ihrer beiden Kinder sozusagen direkt wieder mit dem Training angefangen. Was gibt Ihnen der Sport?
Durch den Sport habe ich gelernt, auf meinen Körper zu vertrauen, ihn zu verstehen und auf ihn zu hören. Bei der Geburt meines Sohnes hatte ich einen Kaiserschnitt und zwei Wochen später habe ich wieder mit dem Training angefangen. Und nach der Geburt meiner Tochter, die ebenfalls per Kaiserschnitt zur Welt kam, bin ich nach zwölf Tagen das erste Mal wieder gejoggt. Das würde ich nicht pauschal jedem empfehlen, aber ich habe es gespürt, dass das in Ordnung geht. Mit Anfang 50 kam ich nach einem Motorradunfall mit einer gerissenen Patellasehne und mit angerissenem Kreuzband, Innenband sowie Meniskus ins Spital. Es gab leider Komplikationen und es stand zur Debatte, ob sie mir den Unterschenkel amputieren müssen. Der Arzt sagte damals zu mir, dass ich mit diesem Bein sicher nicht wieder werde Leichtathletik machen können und ich Glück hätte, wenn ich überhaupt wieder damit joggen kann. Ein gutes Jahr später bin ich auf der Halleneuropameisterschaft in Bordeaux über vier Meter weit gesprungen, im 60-Meter-Hürdenlauf bin ich Dritte geworden und im Hochsprung habe ich die Goldmedaille gewonnen. Ich habe dem Arzt dann einige Jahre lang immer eine Ansichtskarte mit meinen Platzierungen geschickt. Dass ich wieder so schnell und so gut, im wahrsten Sinne des Wortes, „auf die Beine kam“, lag ganz sicher auch daran, dass ich mir durch den jahrelangen Sport eine so gute Grundkonstitution aufgebaut habe.
In einem anderen Artikel sagten Sie einmal, dass Sie, obwohl Sie allein leben, sicher nie einsam sein werden. Sport hat für Sie also generell eine starke soziale Komponente – unabhängig vom Alter?
Ich habe kein Problem damit, allein zu sein und kann sehr gut Zeit mit mir selbst verbringen. Ich bin dann allein, aber nicht einsam. Ich habe viele Interessen, Handarbeiten, Basteln oder auch Handwerken. Ich schaue unglaublich gern Krimis. Ausserdem habe ich ja auch noch „Grossmutterpflichten“. Irgendwie reichen mir die 24 Stunden, die ein Tag hat, nicht aus. Gleichzeitig bin ich kein introvertierter Mensch, sondern eher das Gegenteil. Der Sport ermöglicht es mir, diese Seite auszuleben und mit vielen verschiedenen Menschen regelmässig zusammenzukommen, die die gleiche Leidenschaft – die Leichtathletik – teilen. Der Sport verbindet die Menschen. Gerade bei den Masters sind wir eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft und über die Jahre hinweg haben sich echte Freundschaften entwickelt.
Sie sind auch Vorstandsmitglied von Swiss Masters Athletics und engagieren sich ehrenamtlich im Verein. Was genau machen Sie da?
Im Vorstand bin ich mittlerweile seit ungefähr einem Jahr nicht mehr. Es ist wichtig zum richtigen Zeitpunkt auch Platz für den Nachwuchs zu machen. Neben dem Training engagiere ich mich im Verein mehr oder weniger seit Beginn an. 1968 habe ich meinen späteren Mann kennengelernt. 1972 haben wir geheiratet. Er war auch ein guter Leichtathlet, konnte aber, nachdem ihm beide Achillessehnen abgerissen waren, nicht mehr aktiv an Wettkämpfen teilnehmen. Er hat daraufhin die Trainerrolle übernommen. Ich habe ebenfalls damit angefan-gen, junge Mädchen zu trainieren – und die besonders talentierten hat er dann weiter begleitet.
Wir waren zusammen ein gutes Gespann und haben einige erfolgreiche Athletinnen betreut. Fast zehn Jahre lang hatte ich auch die Geschäftsleitung unseres Vereins „Gymnastische Gesellschaft Bern“ (GG Bern) inne. Ich war beim Schweizerischen und beim Berner Leichtathletikverband sowie bei den Freunden der Leichtathletik aktiv, um nur ein paar Stationen zu nennen. Heute bin ich Ehrenmitglied der GG Bern und habe keine direkten Verpflichtungen mehr. Was ich allerdings nach wie vor jedes Jahr mache, ist der Wiederholungskurs für Schiedsrichter, damit ich bei Veranstaltungen im Zweifel einspringen kann, sollte das nötig sein.
Was war und ist Ihre Motivation, das zu tun?
Vereine, gerade Sportvereine, erfüllen eine Funktion für die Gesellschaft und die Gemeinschaft. Sie sind wichtig. Und deshalb ist es auch wichtig, dass man sich dafür engagiert. In den Vereinen und Verbänden sind Menschen, die ich zum Teil seit 1964 kenne. Ich kenne ihre Geschichten und ihre Sorgen und man tauscht sich aus. Das ist wie eine zweite Familie. Auch international sieht man immer wieder bekannte Gesichter, ehemalige Konkurrentinnen, die sich jetzt ebenfalls in einer anderen Rolle im Verbandsgeschehen einbringen. Man teilt gemeinsame Erlebnisse. Ich hatte immer Freude an
Durch Ihren Sport reisen Sie auch viel. Geniessen Sie es, neue Orte und neue Menschen kennenzulernen?
Oh, durch den Sport habe ich so viel von der Welt gesehen. Ich war überall in Europa und auch schon mehrmals in den USA, Japan, Südafrika, Kanada, Brasilien und in Australien. Wer weiss, ob ich diese Länder alle hätte auch ohne die Leichtathletik kennenlernen dürfen. Ich bin sehr weltoffen und liebe es, Menschen aus allen Kulturen
und verschiedenen Generationen zu begegnen. Mein persönliches Highlight war San Francisco. Es war seit 1968 einer meiner Träume, dort einmal hinzureisen und mit der Weltmeisterschaft in Sacramento 2011 konnte ich mir diesen Traum dann endlich erfüllen.
Bei der letzten Masters-WM in Göteborg hat das Schweizer Team insgesamt neun Medaillen abgeräumt, darunter auch zwei Goldmedaillen, von denen Sie eine im Weitsprung gewannen. Ausserdem holten Sie noch zwei Silbermedaillen im Dreisprung und im Siebenkampf und eine Bronzemedaille über 200 Meter Hürden. Wie ist das Gefühl, bei so einem grossen Event so erfolgreich zu sein?
Ja, das ist schon ein ganz tolles und sehr spezielles Gefühl. Als ich da mit Gold ganz oben auf dem Treppchen stand und die Schweizer Nationalhymne gespielt wurde, war ich enorm stolz und das war ein Gänsehautmoment. Ich hatte auch ein paar Freudentränchen in den Augen. Vor allem aber ging es mir um die gute Leistung, die ich gebracht habe. Viele können das unter Umständen nicht so einschätzen, aber ich schon. Wenn das dann obendrauf auch noch mit der Goldmedaille belohnt wird, ist es umso schöner.
Wie oft pro Woche trainieren Sie und wie sieht Ihr Trainingsprogramm konkret aus?
Zwei bis drei Mal pro Woche gehe ich zum Hammerwerfen. Einmal pro Woche treffe ich mich beim Lauftreff mit einer Gruppe von Frauen in meinem Alter und wir laufen gemeinsam eine Strecke von circa fünf Kilometern. Hier ist mir besonders der soziale Kontakt wichtig, weniger die Leistungssteigerung. Seit ca. sechs Wochen habe ich noch ein Sprinttraining mit in mein Programm aufgenommen. Wenn es die Zeit erlaubt, mache ich noch ein ergänzendes Krafttraining.
Vielleicht denken viele ältere Menschen, dass sie nicht einfach zu einem Leichtathletikverein gehen können und dass sie dort eher „schief angeschaut“ würden. Was würden Sie diesen Menschen sagen?
Ich erhalte noch recht häufig Anrufe oder E-Mails von Menschen, so ungefähr ab 55 Jahren, die mich fragen, wo sie Leichtathletik machen können. Tatsächlich ist das leider recht schwierig. Da gibt es nur wenige spezifische Angebote von Vereinen und deswegen trainieren die meisten für sich allein. Das wäre auch mein Appell an die Vereine, hier ein grösseres Angebot zu schaffen.
Es muss ja auch nicht unbedingt Leichtathletik sein. Man könnte auch ein angeleitetes Training im Fitnesscenter machen. Was wäre Ihre Empfehlung für Menschen, die schon lange keinen Sport mehr gemacht haben? Wie schaffen Sie den Einstieg und finden auch vielleicht Anschluss?
Die Hauptsache ist, man bleibt in Bewegung. „Wer rastet, der rostet!“. Tatsächlich hat eine Freundin von mir vor Kurzem eine Mitgliedschaft in einem Fitnesscenter gewonnen und geht dort jetzt regelmässig hin. Mittlerweile ist auch ihr Mann Mitglied dort. Eine solide Muskelsubstanz und eine gute Koordination sind enorm wichtig und je
älter man wird, umso grösser ist die Bedeutung für die Gesundheit.
Worauf müssen aus Ihrer Sicht als Seniorin und alleinstehende Frau Fitnesscenterbetreiber achten, damit sich ältere Menschen angesprochen und wohlfühlen und eine richtige Gemeinschaft entstehen kann?
Zunächst einmal ist Aufklärungsarbeit wichtig. Je früher man mit Sport und auch mit Krafttraining anfängt, desto besser. Trotzdem ist es nie zu spät, um damit anzufangen. Das ist, glaube ich, vielen nicht bewusst. Die Fitnesscenter brauchen gut und vielleicht sogar speziell für die Bedürfnisse älterer Zielgruppen ausgebildete Trainerinnen und Trainer, die sich ausreichend Zeit für die Kunden nehmen, um ihnen alles zu erklären und sie zu begleiten. Vielleicht wäre es auch eine Idee, bestimmte Zeitfenster anzubieten, speziell für die Betreu-ung von Älteren. Dann begegnen sich gleichaltrige Menschen und verlieren ein wenig die Scheu.
Richten wir den Blick in die Zukunft. Wie sieht Ihre Saisonplanung für 2025 aus?
In zwei Wochen reise ich nach Gainsville (Florida) zu den Hallenweltmeisterschaften, die ab dem 23. März dort stattfinden. Ich werde in insgesamt sechs Disziplinen an den Start gehen und ich habe nicht vor, ohne Medaillen wieder nach Hause zu kommen. Ich fliege zunächst nach Atlanta zu meiner langjährigen Freundin, die ebenfalls teilnehmen wird. Wir werden dann gemeinsam mit ihrem Auto die rund 500 Kilometer nach Gainsville zur Meisterschaft fahren. Auch das wird sicherlich wieder ein aufregendes Abenteuer.
Mit Ihrem Selbstbewusstsein und Ihrer aktiven Lebensart sind Sie für viele sicherlich ein Vorbild. Was würden Sie den Menschen gern mit auf den Weg geben?
Der eigene Körper ist wertvoll. Schaut nach euch! Sport und Bewegung sollten wie auch das Zähneputzen zur regelmässigen Routine gehören. Es muss kein Leistungssport sein. Aber trainieren und sich dabei auch fordern, ist wichtig. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.
MARGARITHA DÄHLER-STETTLER
Die passionierte Leichtathletin ist Jahrgang 1947. Sie wäre gern Fussballerin geworden, aber „zu ihrer Zeit“ war das für Mädchen keine Option. Sie fand ihren Weg in die Leichtathletik, wo sie auch ihren Mann kennenlernte, mit dem sie zwei Kinder bekam. Heute ist sie stolze Grossmutter und Leichtathletik-Weltmeisterin in der Kategorie „Frauen über 75“. Ihre Ambitionen sind nach wie vor gross und ans Aufhören denkt sie noch lange nicht.
Foto: Andy Habermacher